Neue Leben: Roman (German Edition)
unmittelbare Wandnähe rückte. 226 Wir schwiegen, als wüßten wir nicht, wie wir abseits unseres Rituals miteinander reden sollten. Ihr Gesicht, das immer etwas Maskenhaftes gehabt hatte, verriet jetzt jede Regung, jeden Gedanken. »Schön, daß Sie mal reinschauen!« sagte ich, um die Spannung, die ihr Schweigen erzeugte, nicht übermächtig werden zu lassen. Frau Schorba sah nicht auf. Ich wartete.
»Nehmen Sie mich? Können Sie mich einstellen? Bitte! Und fragen Sie mich nicht, warum.« Sie ergriff meine Hände. »Sie dürfen mich das nie, nie fragen. Das müssen Sie mir versprechen.«
Frau Schorbas Hände waren eiskalt. Sie war auf ihrem Stuhl nach vorn gerutscht und neigte sich so weit vor, daß ich fürchtete, sie würde im nächsten Augenblick auf die Knie sinken.
Ich bat sie, sich wieder aufrecht hinzusetzen.
»Sie müssen!« flüsterte sie und bot mir ihren ausrasierten Nacken dar. »Sie müssen! Bitte! Bitte!«
Erst als ich drohte, jeden Moment könne jemand hereinkommen, richtete sie sich auf und zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel. Kurz darauf trat Jörg ein, einen Brief in der Hand.
Ich stellte Frau Schorba vor und bat sie, im Empfangsraum zu warten. Der gelungene Hauskauf tröstete Jörg und mich schnell über das Schreiben Steens hinweg, der uns mitteilte, wegen inner-betrieblicher Umstrukturierungen in den nächsten Wochen leider keine Zeit für uns erübrigen zu können. Das bedeutete, daß wir nicht auf eine Fortsetzung seiner Anzeige hoffen durften.
Ich erzählte Jörg, was ich von Frau Schorba wußte, und bat ihn, sie in die Schar der Bewerberinnen aufzunehmen, denn wir brauchen dringend Verstärkung.
Dann begleitete ich Frau Schorba nach unten. Auf die Frage nach ihren Gehaltsvorstellungen zuckte sie glücklich mit den Schultern. Sie nehme, was wir ihr geben könnten.
Sei umarmt, Dein E.
PS : Du würdest natürlich dasselbe verdienen wie ich!
Donnerstag, 10. 5. 90
Liebe Nicoletta!
Ich stelle mir immer vor, Sie läsen meine Briefe im Stehen, im Stehen oder im Gehen. Kaum haben Sie die neueste Sendung aus dem Briefkasten gefischt, klemmen Sie Tasche und Zeitung unter den Arm, öffnen das Kuvert mit dem Zündschlüssel, entfaltendie Seiten und beginnen zu lesen, ohne sich um etwas anderes zu kümmern. Sie merken gar nicht, wie Ihre Füße Sie Stufe um Stufe die Treppe hinauftragen, Sie die Tür aufschließen, Sie Tasche und Zeitung ablegen oder einfach zu Boden fallen lassen. Es ist gar nicht so wichtig, bei welchen Zeilen Sie lächeln oder sich Ihre Stirn kraust. Wichtig allein ist Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Erst zur zweiten Lektüre machen Sie es sich im Sessel oder auf der Couch bequem. Wer auch immer Sie beim Lesen sieht – wird er den Absender der Briefe nicht beneiden und sich an seine Stelle wünschen?
Träume wie dieser sind schuld, daß ich fortfahre.
Mitte Juni 87, knapp anderthalb Jahre nachdem Vera ihren Ausreiseantrag gestellt hatte, erhielt ich ein Telegramm. Ausreise heute, Neustädter Bahnhof, dann folgte die Abfahrtszeit und wie üblich: Gruß, Vera.
Das Telegramm war gegen elf gekommen. Sonst hatte ich spätestens um zehn das Haus verlassen. Und auch an jenem Dienstag wäre ich schon in der Bibliothek gewesen, hätte ich nicht nach dem Aufstehen vergeblich am Wasserhahn gedreht. Ein Zettel im Hausflur versprach ab elf Uhr wieder fließend Wasser. Ich hatte mich noch mal hingelegt und war erst vom Fauchen und Röhren der Leitung und der rostbraunen Sturzflut, die ins Waschbecken schoß, erwacht. Und hätte ich nicht im Weggehen den Boten, der mit auf die Stirn geschobener Brille das Klingelbrett inspizierte, gefragt, zu wem er denn wolle … ein Wunder also, daß ich das Telegramm rechtzeitig erhielt.
Es ist eine der wenigen Zugfahrten gewesen, auf die ich kein Buch und keine Arbeit mitnahm. Obwohl ich die ganze Zeit aus dem Fenster sah, nahm ich weder etwas vom Saaletal noch von Weinböhla wahr.
Vom Neustädter Bahnhof aus ging ich zu Veras Wohnung. Die Fenster waren zu, niemand öffnete. Ich schrieb einen Zettelund fuhr zu Mutters Wohnung. Auch dort niemand. Endlich, fast eine Stunde später, kamen beide.
Vera war den ganzen Tag von Amt zu Amt gerannt, Mutter hatte sich zum ersten Mal in ihrem Leben krank gemeldet und schleppte zwei Koffer voll neuer Schuhe, Bett- und Unterwäsche herein. Sie verstand nicht, warum Vera nur mit einer kleinen Reisetasche fahren wollte. Ohne ihre Photos und die gesammelten Taschentücher meines Vaters
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