Neue Leben: Roman (German Edition)
Es steigerte sich von Satz zu Satz, beinah von Wort zu Wort. Mario schwitzte. Zum Schluß hatte er beinah jeden Satz mit einem Auflachen begonnen und beendet. Den kalt gewordenen Tee trank er in einem Zug aus.
Geronimo starrte erschöpft vor sich hin. Mario drängte zum Aufbruch. Ich weiß nicht, warum ich nicht bei Geronimo blieb und wenigstens Franziskas Rückkehr abwartete. Wir hatten keine zwei Sätze miteinander gesprochen. Ich ging voran die Treppe hinunter und hörte, wie Geronimo die Wohnungstür schloß.
Mario bat mich, ihn in die Innenstadt zu fahren. Gerade als ich dachte, er sei neben mir eingeschlafen, schlug er die Augen auf und fragte, ob ich immer noch Gedichte schriebe.
An der Kreuzung zwischen Fučík-Platz 292 und Kupferstichkabinett erreichten wir den Demonstrationszug. Ich hielt und ließ Mario aussteigen. Unser Abschied war kurz. Der Zufall aber wollte es, daß ich auf ein Photo geriet und auf diese Art und Weise in Geronimos Buch. Nur weiß das niemand außer mir. Ich bin jener Fahrer auf dem oberen Photo von S. 45, der neben der offenen Tür seines Wartburg steht.
Ich hatte gerade Mario zugewinkt, der mir über die Köpfe der Leute hinweg etwas zurief. Mein Blick folgte seinem weißen Turban. Dann hörte ich hinter mir meinen Namen. Als ich mich umdrehte, kam er mit hochgezogenen Schultern, einem schiefen Lächeln und Rabenschritten auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Seine Füße schienen immer noch in den Arbeitsschuhen seines Vaters zu stecken. Ich schüttelte Hendrik die Hand. »Ich suche meine Mutter«, sagte ich. Wir sollten uns mal wiedersehen, sagte er. Ich fragte, ob er mit mir nach Hause fahren wolle. Er wohne nicht mehr in Klotzsche, sagte er. Kurz darauf verlor ich auch ihn aus den Augen.
Wie früher, wenn ich allein war, legte ich mich ins Bett meiner Mutter und schlief mit ihrem Nachthemd unterm Kopfkissen schnell ein. 293
Ihr Enrico
Montag, 28. 5. 90
Lieber Jo!
Wärst Du hier Lokalpolitiker, würdest Du täglich anrufen, Briefe ankündigen oder diese »am besten mal selbst schnell vorbeibringen«, um einen letzten verzweifelten Versuch zu wagen, als Kandidat auf die Liste der fünfminütigen Audienzen beim Erbprinzen zu kommen. Dank der beiden Seiten über »Seine Hoheit« hat sich die letzte Ausgabe besser verkauft als unsere Skandalnummer.
Der
erste
Beschluß der
ersten
Sitzung der
ersten
frei gewählten Volksvertreter seit knapp sechzig Jahren bestand in der Einladung an den Erbprinzen (die Einstimmigkeit hatte Barrista mehr oder weniger zur Bedingung gemacht, denn »Seine Hoheit« wolle den Wunsch nicht gegen Widerstände oder Vorbehalte verwirklicht sehen). Selbst unsere PDS ler rissen die Arme hoch. Alle miteinander waren sie dankbar, derart symbolträchtig beginnen zu können. Zuerst lobten sie uns – der Besuch trägt das Epitheton »organisiert vom ›Altenburger Wochenblatt‹« – und dann sich selbst, weil sie versuchten, eine unterbrochene, für Stadt und Land eminent wichtige Tradition, die in den Jahrzehntender SED -Diktatur unterdrückt worden war, wiederzubeleben. In der Tanzschule üben sie bereits den Hofknicks.
Ein paar schwarze Schafe versuchen, sich hinter unserem Rücken an den Erbprinzen heranzupirschen. Jeder zweite davon will ihn anpumpen, was der Erbprinz nach Aussage des Barons nicht einmal als Unverschämtheit empfinden würde.
Der Baron hat zwei große aneinandergebaute Mietshäuser gekauft, deren zur Straße gelegene Nordseite regelrecht verrußt ist. Noch im Treppenhaus war mir seine Begeisterung ein Rätsel. Die hohen stuckverzierten Räume mit den alten Türen machten die Sache schon plausibler. Eine der beiden Holzveranden, die zu jeder Wohnung gehören, soll zum Wintergarten werden. Dann aber der Blick! Von der Südseite geht er geradewegs hinüber zum Schloß und – bei klarer Sicht – bis zum Kamm des Erzgebirges. Die Schloßfassade strahlte wie eine Bergkuppe im Abendlicht. In der Ferne ein dunkelblauer Streifen. Nicht genug damit. Unten sieht man eine Wiese voller Obstbäume, die an einer drei oder vier Meter in die Tiefe gehenden Felswand endet, an der die Hinterhöfe der im Tal gelegenen Grundstücke beginnen. Renoviert wird seine Lieblingsimmobilie rund um die Uhr, denn er zahlt in harter Währung.
Wenn ich auch glaube, mich nicht zu schonen, führe ich im Vergleich zu anderen ein beinah kontemplatives Leben. Andy will nicht nur einen zweiten Laden einrichten, er hat sich zudem in den Kopf
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