Neue Leben: Roman (German Edition)
Woche, ein Jahr.
Während die Mitreisenden im Abteil sich mehr und mehr wie Schüler auf einem Ausflug benehmen und einander mit ihren westdeutschen Ausweisen, die sie wie Taschenspiegel in der Handfläche halten, blenden, bleibe ich ruhig, weil ich ja die Dinge besitze. Ich bin überzeugt, die Dinge mindestens ebenso schnell parat zu haben wie sie die Ausweise, denn meine Jo-Jo-Hand, mit der ich gerade die farbigsten Früchte wie Tennisbälle fange und zurückwerfe, gewinnt zunehmend an Geschicklichkeit. Nicht nur das. Ich benenne auch jede Frucht. Wie leicht mir das Französische fällt, ich lese es von einem Täfelchen ab, das zugleich mit jeder Frucht erscheint, ich muß nicht mal Vokabeln lernen! Erst als ich zweimal hintereinander dieselbe Frucht fange, die mattorange und fünfsilbig schimmert, fällt mir auf, daß sich meine Stimme mit jeder Frucht ändert und ich längst eine Melodie singe. Um die Aufmerksamkeit der Mitreisenden zu erregen, muß ich die Früchte in jongleurhafter Schnelligkeit aufeinanderfolgen lassen, andernfalls wird die Musik, die in meinem Handelnklingt, unbemerkt bleiben. Schon im nächsten Moment bereue ich mein neues Tempo. Es ist unmöglich, die mehrsilbigen Worte auch nur annähernd vollständig auszusprechen. Zweimal fliegt mir die Frucht Merci zu, doch jedesmal gelingt mir nur Merz zu sagen. Merz, krächze ich, Merz. Meine Stimme ist dahin. Egal wie farbenreich die Frucht schillert, jedesmal krächze ich Merz, Merz, nur Merz. Die Mitreisenden machen sich einen Spaß daraus, nach meinen Früchten zu haschen. Ich bin empört darüber. Mamus ermuntert die anderen sogar, weil sie glaubt, ganz in meinem Sinne zu handeln. Ich schreie Mamus an, aber bevor ich ihr Gesicht sehen kann, wird die Abteiltür aufgerissen. Im selben Moment treffen die Reflexe der Handspiegel auf dem Abzeichen an der Mütze des Grenzers zusammen. Er nickt und will schon die Tür wieder schließen, als sein Blick auf mich fällt. Ich hebe die Hand, aber ich hebe sie nur wie zum Gruß, weil ich selbst schon nicht mehr daran glaube, daß mir irgendeine Frucht zufliegt. Alle stöhnen auf. Meinetwegen werden wir auf das Abstellgleis gewinkt.
Dein Heinrich
Mittwoch, 7. 2. 90
Lieber Jo!
Irgendwann wird Dich ein Kärtchen erreichen, zum Beweis, daß wir in Paris gewesen sind.
Am Montag, einen Tag nach unserer Rückkehr, erfuhren wir zufällig, daß Tante Trockel gestorben ist, Roberts Kinderfrau. Vor drei Wochen, als wir in Offenburg waren, hat sie ihn noch bekocht und auf ihn aufgepaßt. Sie lebte schon nicht mehr, alswir ihr von Paris aus schrieben. Bei unserem letzten Besuch zu Beginn des Jahres war es besonders lustig zugegangen. 44
Tante Trockel war Michaelas erste Freundin in Altenburg (und vielleicht auch die einzige). Michaela behauptet, Tante Trockel habe ein bißchen ausgesehen wie Virginia Woolf. Ich finde das nicht. Mir schien es immer, als hätten sich in ihrem Mund viel zu viele ihrer langen ungeordneten Zähne befunden. Tante Trockel vermied es, zu lächeln oder gar zu lachen, weil sich dann ihre Hauer bis hinauf zum Zahnfleisch entblößten. Lachte sie trotzdem einmal, hielt sie reflexhaft eine Hand vor den Mund, was geziert wirkte. Vor ihren Einladungen habe ich mich immer etwas gefürchtet, denn seit sie nicht mehr in ihrem Kurzwarenladen arbeitete, bekamen wir alles zu hören, was ihr in den letzten Wochen durch den Kopf gegangen war. Michaela bewies jedesmal eine Geduld, die mich oft fassungslos, ja wütend machte. Ging es um Tante Trockel, herrschte bei Michaela Ausnahmezustand. Denn ohne Tante Trockels Unterstützung hätte sie damals die Schauspielerei an den Nagel hängen können.
Was soll ich Dir von Paris erzählen? Es war zu spät. Mir erging es wie einem, der bei der tausendmal herbeigesehnten Ankunft erfahren muß, daß die, nach der er sich ein Leben lang verzehrt hat, bereits abgereist ist.
In den zwei Stunden, in denen sich die Familie auf dem Eiffelturm tummelte und ich machen konnte, was ich wollte, nahm der Mauer-Dämon von mir Besitz. Ich geriet in Panik, als müßte ich mich entscheiden, zu bleiben oder zu fahren, obwohl ich doch jeden Augenblick Herr meiner Sinne gewesen bin.
Warum sollten mich die Artikel quälen? Im Prinzip sind es Geschichten. Konkreter Einstieg, alltägliche Situation, Verschärfung,dann alles hinein, was man an Fakten weiß, vielleicht ein paar ähnliche Fälle, schließlich die Schlußpirouette mit Überraschung, durch die man an den Anfang
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