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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Anzügen, beide trugen dazu dunkle Hemden, beide hatten einen rotblauen Schlips um. Man hätte es für Betriebskleidung halten können. Kurt hingegen saß in Bermudas und einem kurzärmeligen gelben Hemd stumm am Rand, die Ellbogen auf den Knien, und betrachtete ungeniert und gleichgültig das Treiben der Frauen. Manuela, die sich die Warze am Kinn hat wegmachen lassen, führte wieder einen ihrer hochgeschlitzten Röcke vor, ihre Dekolletés werden immer gewagter. Evi und Frau Schorba waren beim Friseur gewesen und sahen unter ihren Dauerwellen gleich alt aus, wie die Tanten-Komparsen der Jugendweihefeiern.Mona hatte nur Lippenstift benutzt. Mir fiel zum ersten Mal auf, daß sie schön ist.
    Alle Stühle standen auf einer Seite des Tisches, als seien es nicht wir, sondern der Baron, der eine Prüfung zu bestehen hatte.
    Als er mit zehnminütiger Verspätung hereingefegt kam, durchquerte er den Raum im Laufschritt, warf seine Collegemappe auf den Besuchertisch, riß den Telephonhörer an sich und wählte.
    Es war totenstill, als er seinen vollständigen Namen nannte. Die Unfallmeldung gelang ihm derart perfekt, als läse er sie aus einer DRK -Broschüre vor. »Ja, ich warte«, sagte er und sah sich zum ersten Mal nach uns um: »Direkt vor Ihrer Tür«, flüsterte er.
    Ich weiß nicht, warum sich keiner von uns rührte. Erst nachdem der Baron aufgelegt hatte, folgten wir ihm hinaus.
    Der Baron, der den verrückten Alten in die stabile Seitenlage gebracht hatte, kniete sich neben ihn und rief »Herr Hausmann! Hilfe kommt!« Der Alte stöhnte, blinzelte und schien uns zu mustern, auch mich, ohne daß ich eine Reaktion an ihm wahrgenommen hätte. Seine Hände waren blutverschmiert. Der Baron rief ständig »Herr Hausmann, Herr Hausmann!« – ich hörte zum ersten Mal den Namen des Alten – und ermahnte ihn, wach zu bleiben. Nachdem der Baron ein Glas Wasser für den Alten zurückgewiesen hatte, konnten wir nichts weiter tun, als immer wieder den Knopf für das Licht zu drücken. Der Baron half später, den Alten auf die Trage zu hieven. Dieser schloß im selben Moment die Augen, als wollte er nicht mit ansehen, wie man ihn durch das steile Treppenhaus nach unten bugsierte. Astrid, der Wolf, bellte ihm nach.
    So kaltschnäuzig es klingt, aber dieser Unfall nahm die Anspannung und Befangenheit von uns. Der Baron dankte ohne einen Anflug von Ironie für das schöne Arrangement. Nach wenigen Augenblicken war es ihm gelungen, die gesamte Aufmerksamkeitauf sich zu ziehen. Und so vergingen die nächsten Stunden wie im Flug.
    Der Baron versprach jedem tausend D-Mark für den Fall – »und wenn ich ›jedem‹ sage, dann meine ich wirklich jede und jeden von Ihnen« –, daß die Stadtplanaktion gelingt. Wir müssen nur die ersten sein!
    Evi und Mona wissen nun, daß es auf der ganzen Welt keinen besseren, keinen moderneren, keinen effizienteren Arbeitsplatz in der Werbung gibt als ihren. Vielleicht seien sie überhaupt die ersten in Ostdeutschland, die jetzt schon an einem Apple-Macintosh arbeiten könnten.
    Herrn Schorba und Kurt bezeichnete er als das Rückgrat des Unternehmens. Der Vertrieb werde von Woche zu Woche mehr Bedeutung erlangen. Ob ihnen klar sei, daß sich mit ihrer Arbeit Wohl und Wehe eines mittelständischen Betriebes entscheiden werde?
    Pringel nannte er das Salz in der Suppe, Frau Schorba das Herz des Unternehmens und Manuela die Diva und den Star der Truppe. Denn ohne sie und ihre Kolleginnen könnten wir noch so gut sein und rackern, wir hätten schlichtweg nichts zu tun. (Er verschwieg, daß ihr Verdienst zu einem ernsthaften Problem wird. Manuela hat ihre Mutter bei sich einquartiert und zieht nun, da sie keine Rücksicht mehr auf ihre Kinder nehmen muß, Tag und Nacht durchs Land; ich fürchte, sie kann bald allein von ihren Verträgen leben. 327 )
    Eine Zeit wie die kommenden Monate und Jahre würden wir alle – »wir alle, wie wir hier sitzen« – so schnell nicht wieder erleben. »Einhundertzwanzigtausend Exemplare!« Das sollten wir uns mal auf der Zunge zergehen lassen. Und das sei erst derAnfang. »Wissen Sie, welch geballte Macht das ist? Vom Völkerschlachtdenkmal bis an den Rand des Erzgebirges, von den Wehrkirchen Geithains bis zu den Pyramiden von Ronneburg – das ist Ihr Gebiet! Das sind Sie!« Sein Blick wanderte unablässig von einem zum anderen.
    »Und dann denken Sie einmal daran, daß Sie als einzige gegen die Großen der Branche ankämpfen. Hier, diese Zeitung, Sie, die Sie hier

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