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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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wie: »Habt ihr schon protestiert?« Niemand von uns weiß, was er meint. »Ihr wollt eine Zeitung sein?« Wir geben uns zerknirscht. »Sie lassen jeden auf den Markt, der will, das geht doch nicht – oder?« Seine Conclusio besteht in aller Regel in der Behauptung, daß das neue Marktgeschehen die alteingesessenen Geschäfte kaputtmachen wird. »Die machen die eigenen Leute kaputt! Is doch so, oder?«
    Mit den eigenen Leuten meint er insbesondere den erlauchten Kreis der Zwölf-Uhr-Tischler. Die Zwölf-Uhr-Tischler dürfen zwischen drei Gerichten wählen, wir müssen nehmen, was übrigbleibt. Die Zwölf-Uhr-Tischler sind die Senatoren des AltenburgerHandels- und Handwerksadels. Dieses gute Dutzend knorziger alter Herren scheint sich für jeden Tisch eine Dame zur Vorsteherin erkoren zu haben, alles ältere Damen, die schon allein durch ihre aufrechte Sitzhaltung Adel verraten.
    Für sie sind wir Parvenüs, die man im Auge behalten muß. Vorläufig wenden sie sich nur schriftlich an uns, wobei sie höchste Sparsamkeit beweisen. Der Galluswirt überreicht uns immer mal abgerissene Zeitungsränder oder halbierte Quittungen, auf denen oftmals nur Name und Adresse stehen, mitunter der Zusatz »Wissen Bescheid!«.
    An Zettel-Tagen genießen wir besondere Fürsorge. Statt uns mit seinen Fragen zu traktieren, wischt er mehrmals über den blanken Tisch. Beim Servieren stupst einem sein Bauch gegen die Schulter. Während des Kassierens durchwühlt er das Kleingeld, hält nach dem zweiten »Stimmt so!« völlig perplex inne, macht die Augen noch runder und läßt seine Groschen zurück ins Portemonnaie fallen. Wenn wir schon aufstehen wollen, stützt er sich mit einer Hand auf den Tisch, senkt verschwörerisch den Kopf und legt das Zettelchen in unsere Mitte. »Hört mal«, sagt er, »das ist so ein Fall, berühmter Mann, Dippel, sagt euch nichts? Dippel! Staudenzucht, führender Betrieb! Was heute botanischer Garten ist, hat er gemacht, für den Dietrich, Nähmaschinen Dietrich, hat alles er gemacht, auch am Bahnhof, alles von Dippel, berühmter Mann eigentlich, alles weggenommen, nie Nazi gewesen, alles enteignet, ganz unrecht, aus dem eigenen Häuschen rausgesetzt, rausgeschmissen, mal besuchen, gibt was her, ganz bestimmt.« Wir versprechen, der Sache sofort nachzugehen, und bedanken uns für den Hinweis. Daraufhin schließen sich die Augen des Galluswirts, die Lippen bilden eine zufriedene Schnute. »Wußt es ja, is Verlaß auf euch«, wobei er jedem, auch Robert, seine große weiche Hand wie ein Geschenk anbietet.
    Sei umarmt, Enrico
     
    PS : Gestern früh trat ein lächelnder Mann im dunkelblauen Dederonkittel ein. Er wollte eine Anzeige aufgeben, bat um Stift und Papier, zeichnete einen rechteckigen Kasten und begann zu schreiben. Zwischendurch mußte er telefonieren, um sich nach dem Preis für Holzleitern zu erkundigen. Aus jedem seiner Worte, aus jeder Geste sprach Lust. Selbst die beiläufigste Bewegung – wie er mir den Zettel herüberschob und mit seinen dicken Fingern und kurzen schwarzrandigen Nägeln darauf klopfte – prägte sich mir ein.
    Als ich ihm den Preis für die Anzeige nannte (bei uns kostet der Millimeter pro Spalte eins achtzig), pfiff er durch die Zähne, reckte sich seitlich und zog unter seinem Kittel ein Portemonnaie hervor, aus dem hundert Papiere auf den Tisch fielen. Er wolle das jetzt erledigt wissen, sagte er und blätterte viermal Karl Marx auf den Tisch.
    Ich dankte ihm, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Ich sagte, daß seine Anzeige in zwanzigtausend Exemplaren am 16. Februar erscheinen und die Zeitung 90 Pfennige kosten werde. Da er immer noch keine Anstalten machte zu gehen, zählte ich unsere Rubriken auf: Reportage, Lokalpolitik, Wirtschaft, Historie, Kunst und Sport, und kündigte Kreuzworträtsel, Horoskop und Karikaturen an. Er nickte beifällig. Leider habe er keine Zeit, er müsse los. Ich sagte, daß ich ihn nicht länger aufhalten wolle. »Aber jetzt«, sagte er, »brauche ich die Quittung.«
    Eine Quittung. Davon wußte ich nichts. Ich begann zu suchen und bemühte mich um zielgerichtete Bewegungen. Ihm genüge auch ein stinknormales Papier, auf das ich einen »Stempel knallen« solle. Im selben Moment fand ich die Offenburger Wundertüte und darin tatsächlich einen Quittungsblock, unglaublich praktisch, gleich mit Blaupapier und einer Pappe als Schreibunterlage, so daß ich es vielleicht auch ohne Anleitung geschafft hätte, das Ding auszufüllen.
    Ohne in

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