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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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zurückkehrt, so zumindest die Vorstellung von Jörg, dem Diplom-Ingenieur. Er liest den ganzen Tag Zeitungen, um sein Repertoire an Wendungen und Tricks zu vergrößern. Jörg hat es auch geschafft, sich als Vertreter des Neuen Forums in die »Kommission gegen Korruption und Amtsmißbrauch« einzuschmuggeln. Dort bekommt er unsere zukünftigen Titelgeschichten frei Haus geliefert.
    Morgens bin ich ab vier oder fünf wach. Daran gewöhne ich mich langsam. Ich höre Radio oder studiere den Duden. In der Redaktion bin ich ein braver Eleve, koche Kaffee, sortiere die spärliche Post, hüte das Telephon und den Ofen, lektoriere beim Abtippen und übe mich im Abfassen von Meldungen. Allenfalls verrät mich mein Kürzel. Die Kleinschreibung macht aus dem Alien ein klassisches »et«. 45
    Angst habe ich allein vor dem Unbekannten und Unbedachten – vor irgendeiner Fehlkalkulation oder Laune der Druckerei oder der Post. Ich lebe hier in einer Oase. Michaela redet sich das Theater schön, aber es ist ein Desaster. Meine Mutter schluckt Beruhigungspillen, bevor sie in die Klinik fährt. Und was Robert aus der Schule erzählt, ist auch nicht besonders lustig. Ich wundere mich, daß die Kinder nicht zynisch werden. Schon allein dafür muß man sie lieben.
    Heute verbrachte ich den Nachmittag mit einem alten Bauern, der uns mehrmals versicherte, länger als sein halbes Leben auf eine Zeitung wie unsere gewartet zu haben. Meinen Einwand, es gebe sie ja noch gar nicht, überging er. Die ganze Revolution sei nichts wert ohne Leute wie uns, die was aus den Möglichkeitenmachten. Bei »Revolution« vernuschelt er die ersten Silben, die letzte jedoch gleicht einem Fanfarenstoß. »Was draus machen!« ist sein Schlachtruf.
    Seine Memoiren hat er für die Familie, für seine drei Enkelinnen geschrieben, ohne Hoffnung auf Veröffentlichung. Als ich ihn bat, die Rubrik mit Garten- und Feldtips zu übernehmen, fragte er nur nach Umfang und Termin und erbot sich, seine Texte gleich auf Manuskriptpapier zu liefern, er besitze eine Schreibmaschine.
    Fred, der den Vertrieb organisieren soll und immer so ernst dreinschaut wie ein von Cranach gemalter Kurfürst, nennt Larschen »Schneekoppe«, weil sich sein dichtes weißes Haar merkwürdig auftürmt.
    Allmählich wächst die Familie. Ab März werden wir eine Sekretärin haben, Ilona, die jetzt nur stundenweise aushilft. Sie trägt eine viel zu große Brille für ihren kleinen Kopf und kokettiert damit, bereits Großmutter zu sein, »aber no ni vierzsch!«. Jörg und Georg sind für Ilona Männer mit einem Lebenswerk, der Zeitung nämlich, während Fred und ich, als geborene Wasserträger, froh sein dürfen mitzutun. Wird irgendein Name erwähnt, kann man sicher sein, daß Ilona die Leute kennt und auch eine Meinung von ihnen hat, in aller Regel eine schlechte. Kaum hat sie etwas Abfälliges bemerkt, schlägt sie eine Hand vor den Mund, sieht sich erschrocken um und flüstert: »Ei Godd, dahrfsch das überhaubd saahgn?«
    Bei Marion, Jörgs Frau, ist die Rangfolge unbestimmt. Sie siezt mich als einzigen, spricht gern von dem Opfer, das ich brächte. Sie meint, ich hätte zugunsten der Allgemeinheit das Theater aufgegeben, also auf das Beste und Schönste verzichtet, wobei sie mich ganz verliebt anschaut. Man hat ihr als Bibliothekarin in irgendeiner Zweigstelle des Braunkohlekombinats bereits gekündigt. Sie könne ermessen, was es bedeute, wenn mander Kunst den Rücken zuwenden müsse. Dazu nickt Marion, die Augenbrauen immer etwas hochgezogen, als erwarte sie Zustimmung. Ilona findet, Marion sehe aus wie Mireille Mathieu. Mich erinnert sie eher an eine Schauspielerin aus einem Stummfilm, deren Photo ich in einem Reclam-Querformat gesehen habe. 46 Ab März wird Marion halbtags bei uns arbeiten. Georg verlieh ihr den Titel einer Redaktionssekretärin.
    Robert, der Ferien hat, kommt gegen eins zu uns in die Redaktion. Zusammen gehen wir dann zum Galluswirt. Bei ihm besitzen wir neuerdings das Privileg einer Tischreservierung. Natürlich darf jeder beim Galluswirt eintreten, aber er wird keinen Platz finden. Wochentags steht uns um 13 Uhr ein Vierertisch zur Verfügung. Vorsuppe, Hauptgericht und Nachtisch kosten zwischen zwei fünfzig und vier Mark. Der damit verbundene Status jedoch ist kaum zu überschätzen. Der Galluswirt ist Anfang Sechzig, die glatten Wangen jedoch und die aufmerksam hin und her eilenden Augen geben seinem Gesicht etwas Jungenhaftes. Besonderes Vergnügen machen ihm Fragen

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