Neue Leben: Roman (German Edition)
brauchen vorerst niemanden mehr. Für sie ist es bitter, denn auch keinem in der Familie 372 könnte ich sie reinen Herzens empfehlen, dafür kenne ich sie zu gut.
Am Sonntag ist Franziska und Dir wirklich etwas entgangen. Ein solches Spektakel werden wir so schnell nicht wieder erleben. Außerdem hätte mich Euer Eindruck interessiert, nicht zuletzt die Sicht eines Theologen 373 . Es war schon eine merkwürdige, seltsam enthobene Veranstaltung.
Nach dem Frühstück in unserem Obstgarten lud uns der Baron in den kleinen Bus. Außer ihm hatte wohl niemand eine Ahnung, was uns erwartete. Michaela war zu ihm in die Fahrerkabine gestiegen. Hinten saßen der Erbprinz, Robert, Mutter, Vera, Astrid und ich, jeder auf einem eigenen Sessel, bezogen mit dem gleichen samtartigen Stoff, mit dem der ganze Wagen ausgekleidet war. Der Fernseher an der Stirnseite flackerte – auf dem Bildschirm erschienen der Baron und Michaela. Sie winkten uns zu, dann verlosch das Bild wieder. Irgendwoher kam Musik, Mozart wahrscheinlich – wir fuhren bereits. Der Wagen duftete neu und fremd, die Scheiben dämpften das Licht, der kühle Luftzug aus der Klimaanlage war angenehm. Wir konnten die Leute sehen, die stehenblieben und uns anstarrten. Doch ihrerseits, das wußte ich, konnten sie nur ihr Spiegelbild in den schwarzen Scheiben erkennen. Wir brausten aus der Stadt hinaus Richtung Schmölln, vorbei an der eingerüsteten Villa des Barons, wo sich die Arbeiter wie Ameisen tummelten. Kaum lagen die letzten Häuser hinter uns, fiel ich in eine Art Halbschlaf. Aber mir entgingnichts. Ein jegliches, Baum und Feld, Ähre und Blatt, offenbarten sich in schmerzlicher Klarheit. Selbst die Gesichter der Menschen, die auf den Feldern arbeiteten oder an einer Bushaltestelle warteten, schienen zu leuchten, wenn sie aufsahen und uns zuwinkten.
In Großstöbnitz bogen wir von der Hauptstraße ab. Wir wurden schneller. Häuser, Gärten und Felder flogen vorbei, es ging bergauf, der steile Anstieg wollte kein Ende nehmen. Ich schloß die Augen wieder – und versank in einer anderen Welt, einer Welt aus Klängen und Melodien. Ich verlor mich in dieser Musik, von der ich nicht wußte, ob sie in mir war oder von außen zu mir drang. Mir war, als tauschte ich meine menschliche Existenz gegen eine andere Daseinsweise aus, und ich hatte zum ersten Mal die Ahnung einer erlösten Welt inmitten der unseren. Ja, lach nur, aber das sind Träume, die, sobald sie unser Bewußtsein berühren, zerplatzen wie Tiefseefische, die man zum Auftauchen zwingt.
Als sich die Tür öffnete, spürte ich, daß die äußere Temperatur mit jener im Wagen exakt übereinstimmte.
In einem Tonfall, als hätten wir seit der Abreise eine ununterbrochene Unterhaltung geführt, erklärte der Baron, was uns nun bevorstehe, richtiges, um nicht zu sagen: reales Theater nämlich. Er lachte, verkündete jedoch im nächsten Moment in der Manier eines Zeremonienmeisters: Ein Schauspiel aus Anlaß der Rückkehr des Handreliquiars des heiligen Bonifatius, des Apostels der Deutschen, nach Altenburg und zu Ehren des Besuchs des Erbprinzen in seiner Heimatstadt.
Ich schob den Rollstuhl heran, und Massimo, der uns mit den anderen gefolgt war, hob den Erbprinzen hinein. Vera legte dem Erbprinzen die Decke über die Beine, Mutter reichte ihm ein Fernglas, und Robert spannte einen Schirm auf, damit die Sonne den Erbprinzen nicht blendete. Astrid wich dem Rollstuhlnicht von der Seite, von der rechten wohlbemerkt, um ihn immer im Auge zu haben.
Und schon nahten Landrat und Bürgermeister. Diese »ersten frei Gewählten« bildeten mit ihrem Gefolge ein Spalier zu beiden Seiten des holprigen Weges, auf dem Massimo den Rollstuhl den Berg hinanschob, dessen Kuppe von einer Kapelle gekrönt wurde. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren.
Vor der Kapelle hatte man ein weißes Zelt errichtet. Vielleicht sollte ich es besser einen Baldachin nennen, denn außer den vier Eckstreben, an denen der Stoff nach unten spitz zulief, gab es nur ein Dach und keine Wände. Die Sonne stand im Zenit, die Sicht war überwältigend, ein regelrechter Schock. Der Feldherrenhügel, wie der Baron den unbekannten Berg nannte, erlaubte in nördlicher Richtung eine Aussicht über Altenburg und die Braunkohlensteppe hinweg bis zum Völkerschlachtdenkmal von Leipzig, südlich breiteten sich Vogtland und Erzgebirge aus. Die Pyramiden von Ronneburg lagen greifbar nah im Westen, dahinter der Thüringer Wald, und nach Osten bot sich dem Blick
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