Neue Leben: Roman (German Edition)
die lieblichste Hügellandschaft.
»Denn die trockenen Gefilde waren noch nicht vom himmlischen Tau erfrischt!« verkündete eine Stentorstimme. Links von uns, keine fünfzig Meter hangabwärts, warteten einige hundert seltsam gekleidete Menschen. Aufgeteilt in zwei gleich große Haufen, richteten sich ihre Blicke auf einen Mann mit breitkrempigem Hut. Sein langes Gewand raffend, stieg er von einem Sandhaufen, den ein Schild als »Friesland« auswies, herunter und erklomm einen anderen, auf den man ein mit »England« beschriftetes Schild gepflanzt hatte. Simpelstes Laientheater! Wir waren das Publikum.
Mit Hilfe einer handbetriebenen Winde wurde ein Baum aufgerichtet.
Der Erbprinz bat darum, so nah wie möglich an den Abhanggeschoben zu werden. Als der Baum stand und von einigen Männern mit Seilen im Gleichgewicht gehalten wurde, trat ein Mann vor die Spielschar und rief: »Die Donareiche!« Im selben Moment erschien ein Schild über den Köpfen, das mit »Geismar/Hessen« neuerlich den Ort des Geschehens angab. Hastig trat nun der Mann mit dem Hut hervor – es war Mansfeld, der Pastor –, gefolgt von drei Begleitern, die ihre nervöse Gestik offenbar Bodyguards abgeschaut hatten. Als er die Axt unter seinem Gewand hervorholte und emporhielt, erhoben sich Jammern und Wehklagen. Die Bemühung war dilettantisch, die Wirkung enorm. 374
Der Baron zeigte auf den Mann mit Hut. »Das ist Bonifatius«, erklärte er überflüssigerweise und lächelte Robert zu. Bonifatius war auf die Knie gesunken, seine Stirn berührte im Gebet den Axtstiel, den er mit beiden Händen festhielt. Als er sich nun erhob, stiegen Schreie aus dem allgemeinen Wehe-Wehe auf, die so verzweifelt, so gellend waren, daß ich eine Gänsehaut bekam.
Schritt um Schritt wich die Menge vor dem Bonifatius mit der Axt zurück. Was ich für grandios gespielte Nervosität hielt, erwies sich Sekunden später als eine tatsächliche Befürchtung der Akteure. Denn als Bonifatius die Axt in den Baum schlug – es herrschte absolute Stille –, zerbarst der Stamm in vier Teile, die gleichzeitig, von Seilen gezogen, zu Boden fielen. Das wilde Geschrei des germanischen Heidenvolkes galt nicht so sehr dem Spielablauf als vielmehr der Angst um ihren hangaufwärts postierten Mitspieler, den ein Viertel des Baums knapp verfehlthatte. Doch da ihm offenkundig nichts passiert war und er wie alle anderen niederkniete und zu dem Kreuz aufsah, das Bonifatius nun anstelle der Axt in Händen hielt, wollte auch von uns niemand etwas Bedenkliches darin sehen.
Außerdem setzte ein Choral ein. Ich könnte schwören, auch ein Orchester gehört zu haben. Mehr und mehr Heiden sanken auf die Knie und erhoben flehend die Hände zu ihrem neuen Gott.
Noch bevor der Gesang völlig verklungen war, verkündete der Erzähler mit seinem gewaltigen Baß den Baubeginn der Kirche.
Das war der Startschuß zu einem Wettrennen. Vier Mannschaften hoben die vier im Kreuz liegenden Stämme auf und stürmten bergan, als ginge es gegen ein Stadttor. Ihr Ziel konnte nur die Kapelle hinter uns sein, die frisch gestrichen, doch nicht neu verputzt worden war. Im Gras und auf den Steinen hatten die Maler deutliche Spuren hinterlassen.
Ohne uns eines Blickes zu würdigen, keuchten die bekehrten germanischen Männer, Frauen und Kinder vorüber. Aus der Nähe betrachtet, wirkten sie filmreif präpariert, das wilde Haar, die zerschundenen Arme, die bis weit über die Knöchel schlammverkrusteten Füße und Beine. Wir durften dankbar sein, von diesem Haufen in seinem Spielwahn nicht überrannt zu werden. Sie machten sich an der Kapelle zu schaffen, indem sie die Stämme an vorbereiteten Schellen neben dem Eingang und an der Apsis befestigten.
Die Sonne stand sengend am Himmel, bei uns blieb es angenehm kühl. Der Erbprinz, der dem Geschehen gespannt gefolgt war, wehrte Fragen nach seinem Wohlbefinden lächelnd ab.
Inzwischen waren die Darsteller wieder auf ihre vorherigen Positionen zurückgekehrt. Geschah es, um die Dramatik zu steigern oder die Bedeutung des Ereignisses zu unterstreichen, jedenfalls rückte man näher an uns heran, und eine Frau, die dasSchild »Dokkum – Pfingstfest 754« über der Schulter trug, nahm keine zehn Meter von uns entfernt Aufstellung.
Als sich Bonifatius ihr mit einigen seiner Getreuen genähert hatte – er lief jetzt langsamer und seinem Alter entsprechend tief gebeugt –, wurde ihm ein großes Buch überreicht, was ihn fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.
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