Neue Leben: Roman (German Edition)
die kleinen Haarbüschel auf seinen Fingern für Fliegen. »Ihr wißt doch schon gar nicht mehr, was das ist«, fuhr er seine Lakaien an, lächelte mir zu, streichelte die weißen Bögen, sein Kinn deutete auf den Layout-Entwurf. »So soll es aussehen?«
Ich nickte.
»Sehr gut, sehr gut«, sagte der Chef vom Dienst und begann, mir rätselhafte Fragen zu stellen, zum Beispiel, wieviel Punkt die Überschrift habe und die Unterüberschrift, doch glücklicherweise erteilte er sich die Antwort jedesmal selbst: also zweiundzwanzig, oder achtzehn, und zwölf die Unterüberschrift. Und die Schrift? Also acht. Wir spähten beide hinaus auf das weite weiße Meer, das unberührt vor uns lag. »Ich habe Sie gar nicht gefragt«, fuhr er plötzlich herum, »ob ich darf?«
»Natürlich«, sagte ich und schickte meinen Blick wieder zum Horizont. Jörg hämmerte ununterbrochen auf die Tasten.
Der Chef vom Dienst, der sich des Jacketts entledigt hatte, streckte gebieterisch seine Arme aus. Seine Burschen eilten herbei und nahmen ihm diensteifrig die Manschettenknöpfe ab. Gewissenhaft krempelte er die Ärmel hoch. Plötzlich schwebten seine Hände über den Spiegeln, schnellten wie Libellen übers Wasser, von hier nach da, verharrten eine Weile und zeichneten dann weiter ihr unsichtbares Muster.
Er verlangte Bleistift, Typomaß und Taschenrechner – »Ein Zettel tut’s auch« –, trat kurz zurück und begann.
Es folgte eine Stunde, in der ich erstmals etwas erlernte, das vielleicht dazu taugt, mir mein Brot zu verdienen, ein Handwerk eben. Und zum ersten Mal seit der Schule löste ich wieder eine Gleichung mit einer Unbekannten.
Den Chef vom Dienst interessierte nicht, ob die Substantivierungen verschwunden und die Verben vermehrt worden waren oder ob sich der Satzbau variantenreich und zugleich übersichtlich gestaltete, der Chef vom Dienst fragte nach der Anzahl der Zeichen und Zeilen, welches Photo zu welchem Artikel gehöre, was ein Dreispalter, was ein Zweispalter werden solle. Jetzt waren seine Hände Mäuse, die übers Papier huschten.
Mein Gärtnermeister-Dippel-Artikel war zweimal sechs Zeilenzu lang. Ich strich und erschrak, wie leicht das ging. Der Chef vom Dienst stellte die nächste Kürzungsaufgabe.
Es strömte wieder Leben in mich ein. Die Seite war fertig. Der Chef vom Dienst plante schon die nächste, als Georg erschien und uns alle, auch die Gießener, zu Tisch bat. Die Adjutanten vergaßen darüber den Sinn der ausgestreckten Arme ihres Chefs. »Die Manschettenknöpfe!« zischte er, worauf beide in ihren Jackettaschen wühlten.
Erst glaubte ich, wir würden es bis acht Uhr abends schaffen. Wir mußten ja nur rechnen und kürzen. Es wurde zehn, es wurde zwölf, dann eins, dann drei. Gegen vier legten wir die Seiten in die Mappe. Am schönsten war das Aufräumen. Georg putzte den Ofen, Jörg die elektrische Schreibmaschine. Schließlich saßen wir neben der Transportmappe, als warteten wir darauf, daß unser Kind einschläft.
Übermorgen fahren wir zum Korrekturlesen.
Sei umarmt, E.
PS :
Ich soll Dich von Vera grüßen. Sie rief aus Beirut an. Ihre Schwiegermutter (mit dem schönen Namen Athena) ist krank und sträubt sich gegen eine Reise nach Berlin. Nicola spielt mit dem Gedanken, sein Geschäft in Berlin aufzugeben und das seines verstorbenen Vaters fortzuführen. Von dem Haus ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Aber die wertvolleren Stoffe haben im Keller die Zerstörungen und Plünderungen unbeschadet überstanden. Mutter und Sohn begreifen das als ein Zeichen und Wunder. Welche Rolle Vera bei diesen Überlegungen zukommt, weiß offenbar niemand, zumindest weiß sie es nicht. Und da mein Schwesterchen bekanntlich schon kränkelt, wenn sie nicht das Gefühl hat, der Mittelpunkt der Welt zu sein, versuche ich ihr jede nur denkbare Liebeserklärung zu machen. Obmeine Briefe sie überhaupt erreichen, ist allerdings fraglich. Wenn Du es einmal versuchen willst: Madame Vera Barakat, Beirut – Starco area – Wadi aboujmil, the building next to Alliance College – 4th floor.
Dienstag, 13. 2. 90
Lieber Jo!
Hier habe ich in einer Woche so viele und seltsame Begegnungen wie früher nicht in einem Jahr. Vorgestern 49 saß ich über ein paar Zeilen zum Tierheim (ein Tierheim soll es erst werden, noch ist es ein wilder Zoo, eher die Hundeabteilung der VP 50 ). Material hatte ich genug, auch die Überschrift, doch es ließ sich nicht schreiben. Entweder klang es rührselig oder
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