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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Schwanzparade!«
    Wenn der Spitzel den Mund nicht aufmachte, versuchten sie es mit Ohrfeigen. Mehnert wollte das Blatt zerreißen, dreimal, nicht zu klein und nicht zu groß, der Spitzel sollte ein bißchen kauen müssen.
    Edgar hatte das Blatt mit den schiefen Zeilen und dem Krickelkrakel selbst in der Hand gehabt. Mehnert hatte es jedem gegeben, der es hatte sehen wollen. Aber wer es lesen wollte, mußte dann auch mitmachen, so eindeutig war das, eineindeutig, hatte Bär gesagt. Edgar versuchte sich vorzustellen, wie es aussieht, wenn man jemandem Papier in den Mund stopft. Zusammengeknüllt oder in übereinandergelegten Schnipseln wie ein Stück Baumkuchen. Beim Zukleben eines Kuverts hatte sich Edgar einmal in die Zunge geschnitten. Aber wie zwang man ihn zum Kauen und Schlucken? Und wenn er alles ausspuckte? Wer sammelte die feuchten Schnipsel wieder ein? Ginge es dann von vorn los? Sie johlten so laut, als gäbe es im ganzen Regiment keinen Offizier mehr.
    Edgar schob die Bohnerkeule hinter der Meute entlang. Als er wieder Platz hatte, fand er nur langsam zu seinem Rhythmus zurück.
    Edgar hörte auf zu summen, als er merkte, daß es die Melodie von »Ich möchte ein Eisbär sein« war. Das Lied mochte er genausowenig wie den Spruch von Pitt. Aber eine andere Melodie fiel ihm in dem Lärm nicht ein. Edgar bewegte sich viel zu schnell, als liefe er vor dem Gejohle davon. Aber er wollte nicht davonlaufen. Er hatte keine Angst. Er kannte den Plan und auch das Lachen von Mehnert, bei dem der Mund die Rundung des Kinns wiederholte, ein clownhaftes Lachen. Vielleicht würde Mehnert so lachen, wenn er dem Spitzel das Koppel abgenommen und die Hose heruntergezogen hatte, stolz, weil sein Plan kein leeres Versprechen gewesen war. Bei der Uniformhose reichte es, sie aufzuhaken und die Hosenträger zu lösen, die lange Unterhose jedoch würde er selbst anfassen und herunterziehen müssen. Oder rieben Mehnert und Bär den Hintern des Spitzels bereits mit Schuhcreme ein? Nein, Mehnert würde sich schonen, das war niedere Arbeit, da würde er einen anderen ranlassen, einen, der die Leute zum Lachen brachte. Der Spitzel würde nicht lachen, selbst wenn es kitzelte. Wer weiß schon, wie sich Schuhbürsten auf dem nackten Hintern anfühlen und ob man sich daran gewöhnt und ob der Spitzel die Backen reflexhaft zusammenkneift oder nicht. Und wenn er doch lachte? Das würde er bereuen. Oder heulen. Was macht man mit einem heulenden Spitzel? Er würde nicht heulen. Der Spitzel hielt den Blick gesenkt oder richtete ihn zur Decke. Und wenn er die Leute ansah, ihnen in die Augen sah? Aber wozu? Um sich die Namen zu merken? Rache zu schwören? Dafür war die Sache zu eindeutig. Wenn es je einen Beweis gegeben hat, dann in diesem Fall. Der Spitzel erhielt eine gerechte Strafe, eine Lektion. Edgar wunderte sich nur, wieviel Mehnert riskierte, daß er sich das traute. Mut hatte Mehnert, er war der Rädelsführer, er würde als erster verurteilt.
    Wo der Flur in das Treppenhaus überging, ließ Edgar derBohnerkeule mehr Auslauf. Er spürte tatsächlich seine Bauchmuskeln. Der GUvD stand von dem Tisch auf, als wollte er Edgar Platz machen, und ging zur Meute.
    Warum hatte der Spitzel nicht nach den Unteroffizieren gerufen? Zwei hatten zugesehen, Detchens und Freising, der schöne Spanier. Jemand hatte ihnen sogar einen Hocker gebracht. Aber selbst wenn sie etwas sagen würden, wenn sie den Befehl zum Aufhören geben würden, hätte das keine Folgen. Es schadete nur ihrer Autorität. Und wenn der Spitzel sie anflehte, ihn zu befreien? Er sollte es versuchen, einfach nur: »Genosse Unteroffizier, helfen Sie mir!« Dann säßen Freising und Detchens in der Klemme.
    »Mehnert malt ihm den Schwanz an«, sagte der GUvD und ging an Edgar vorbei Richtung Toilette.
    Sie waren jetzt richtig in Fahrt. Mehnert tippte mit der Bürste von unten gegen die Schwanzspitze. Wie ein Dompteur würde Mehnert den Spitzelschwanz zum Stehen bringen. Und alle wollten sehen, wie es bei einem anderen aussah, wenn er hochging, weil sie immer nur den eigenen Schwanz in der Hand hatten. Edgar zwang sich, an Fußball, an Schule, an Wandertage zu denken. »Ich möchte ein Eisbär sein, am kalten Polar, dann müßte ich nicht mehr schrein, alles wär so klar …« Mehnert in der Rolle seines Lebens. Der Schwanz des Spitzels würde sich über den rechten Winkel hinaus aufrichten, wie ein obszöner Gruß. Mehnert wollte dem Spitzel das Koppel über den Steifen hängen und

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