Neue Leben: Roman (German Edition)
zählen lassen, wie lange er’s hielt, Zählen wie beim Boxkampf. Dann käme das Photo an die Reihe, die Frau, die der Spitzel als seine Freundin ausgegeben hatte, die ihm aber nie schrieb. Das hatte der Spitzel nicht bedacht. Briefe, sagte Mehnert, kriegt er nur von Muttern und von einem Kerl.
Vielleicht wäre es das beste, wenn der Spitzel einfach losheulte oder sich wehrte, aber richtig, schreien und spucken, washalt noch ging. Die Meute zog sich plötzlich zusammen, es wurde still, dann wieder Pfiffe, Applaus.
Edgar ließ die Bohnerkeule zwischen der Tür des Polit und der Toilette hin- und hergehen. Gleich mußte er wenden. Mehnert wollte »den Spitzel melken«. Aber vielleicht war der Spitzel so eingeschüchtert, daß sein Schwanz nichts hergab, egal was Mehnert anstellte, ob mit Handschuhen oder ohne.
Edgar versuchte an etwas anderes zu denken. Aber nicht an zu Hause.
Eigentlich waren Teichmann und Bär schuld. Wären die bereit gewesen, dem Spitzel eine zu verpassen – denn jemand, der sich auf dem Boden krümmt, hätten sie nicht ans Bett gebunden und geschwärzt und gemolken.
Edgar machte kehrt und sah die Meute vor sich. Das ist unsere Weihnachtsfeier, dachte er, und im selben Augenblick, da er die Meute sah und Weihnachtsfeier dachte, wußte Edgar, daß er von nun an zu Weihnachten immer an diese Weihnachtsfeier würde denken müssen. Es war wie ein Urteil, als er begriff, daß er nie wieder ohne die Meute, ohne Mehnert, ohne Pitt, ohne Bär und Teichmann, ohne Spitzel und den Plan, Weihnachten feiern würde. Der Plan hatte sich ihm auf immer eingeprägt, Schritt für Schritt, Wort für Wort, er hatte zu oft daran gedacht. Der Plan bliebe bei ihm wie dieses Eisbär-Lied und wie Pitts Spruch über die Bauchmuskeln. So wie er auch diesen Moment, da er das alles verstand, nie mehr vergessen würde, obwohl er gar nicht mitmachte, obwohl er nicht einmal zusah. Er hörte nur dieses gleichmäßige Johlen und Lachen. Sollte er sich noch die Ohren zuhalten? Er konnte gar nicht mehr anders, als sich das alles einzuprägen.
Er wollte etwas anderes tun, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber er konnte jetzt nicht aufhören, was sonst sollte er tun? Es war vollkommen unmöglich, jetzt aufzuhören.
Zuerst merkte er gar nicht, wie ihm die Stiefel in den Weg der Bohnerkeule gerieten. Dann aber flohen sie wie eine Herde, Hausschuhe, Turnschuhe, Strümpfe, Stiefel, sie sprangen und hüpften vor der Bohnerkeule, und die, die nicht sprangen und hüpften, traf die Bohnerkeule. Es war wie ein Kinderspiel, wie Abschlagen. Je schneller er war, desto mehr wurden getroffen. Eene, meene Muh, und raus bist du! Ich möchte ein Eisbär sein. Er ließ der Bohnerkeule freien Lauf. Raus bist du noch lange nicht, am kalten Polar.
Er hörte die Schreie, aber die waren Teil des Spiels. Auch daß man ihn schlug und niederriß, gehörte dazu. So sind nun mal Kinder. Wenn sie verlieren, werfen sie alles um. Aber er mußte weitermachen. Gerade hier, wo die Meute gestanden hatte, gab es viel zu tun, denn hier waren die Sohlenabdrücke zahllos und ergaben ungewohnte und komplizierte Muster.
Und plötzlich erblickte er ihn – den Spitzel. Der Spitzel kam aus der Stube. Der Spitzel wirkte nicht wütend oder böse, nicht mal traurig. Der Spitzel hatte nicht geschrien, er hatte auch nicht geweint. Der Spitzel hatte die Waschtasche unterm Arm und ein Handtuch über der Schulter. Mit einer Hand hielt er seine Hose fest. Ein paar Schritte, dann war der Spitzel im Waschraum verschwunden.
Und Edgar machte weiter. Er hatte, wie er jetzt bemerkte, ganz still gestanden, still und aufrecht, die Bohnerkeule am Fuß, den Stiel senkrecht im Arm.
Nun aber mußte er sich wieder das Muster der Sohlenabdrücke einprägen, und das im selben Augenblick, da seine Bohnerkeule darüberging. Das war nicht einfach, aber er arbeitete hart, er spürte seine Bauchmuskeln. Und schließlich wurde er auch belohnt. Denn je schneller er die Bohnerkeule hin und her zog, desto deutlicher sah er die Sohlenabdrücke dort unter dem Glanz, eingeschlossen im ewigen Eis.
[Brief vom 17. 4. 90]
STIMMABGABE
– Also zwanzig?
– Zehn, zehn Mark bei vier Knöpfen.
– Du Saftsack! Eben hast du noch gesagt, zwanzig! Bei vier Knöpfen zwanzig!
– Zehn! – Michael hielt ihm die Hand hin.
– Das kannste dir abschminken, Saftsack! Rolf blinzelte durch den Rauch seiner Zigarette. Die herabfallende Asche streifte seinen Pullover.
– Zwanzig!
– Zehn! Hab nur zehn, hier.
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