Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
vorsichtig, als würde sie schmerzen, zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann untersucht er die Bügelfalte des linken Hosenbeins.Auf seinem Rücken sieht man kleine über die Schultern verteilte Schweißflecken.
    Vischer schreibt wieder, den Kopf schief und dicht über dem Blatt. Salwitzky steht hinter ihm. Nur an den Grasbüscheln ist zu sehen, wie windig es ist.
    Die ersten Regentropfen sind so groß, daß man sie einzeln auf dem hellgrauen, bei diesem Licht fast bläulichen Asphalt erkennt.
    Salwitzky beugt sich über Vischers Schulter hinweg, dreht den Fenstergriff und öffnet einen Flügel. Die Tropfen klatschen so laut wie Schneebeeren auf den Asphalt. Sie übertönen sogar das Stiefelgetrappel, zumindest so lange, bis der Rost des Fußabtritts zu scheppern beginnt, regelmäßig, fast rhythmisch.
    Vischer erblickt eine Hand vor seinen Augen, eine fremde schwere Hand mit dicken Fingern, die Vischer, als sie sich spreizen und sich die Kuppen mit den halb zugewachsenen Fingernägeln emporrecken, an Würmer oder ähnliches erinnern. Sehnen und Adern treten hervor, und die Narbe unter dem Ehering wird weiß. Langsam sinkt diese Hand auf Vischers Papier, und während das Stiefelgetrappel und die Stimmen auf dem Gang immer lauter werden und Türen aufschlagen und der Asphalt bereits ganz dunkel ist, zerknüllt diese Hand das Blatt vor Vischers Augen lautlos.

DER SPITZEL
    »Müssen wir ihn eben zum Sprechen bringen, wenn Spitzel schweigt, was, Spitzel? Ist doch logisch, findet Spitzel auch, daß das logisch klingt?«
    Edgar schob die Bohnerkeule auf dem Gang hin und her. Zentimeterweise kam er wieder näher an die Meute heran, die sich vor der offenen Stubentür drängte. Um besser zu sehen, stützten sich die hinteren auf die Schultern der Vordermänner und sprangen hoch oder rissen andere, die sich ebenfalls hochstemmten, nach hinten. Wenn sie nicht gerade johlten oder schrien, verstand Edgar jedes Wort.
    »Prima Idee! Also, Spitzel, warum so stumm?«
    »Der ist nicht stumm. Wenn er was nicht ist, dann stumm, stumm nu wirklich nicht.«
    Es war noch dasselbe Gerede wie vorhin. Edgar hatte geglaubt, es würde zehn, fünfzehn Minuten dauern, höchstens zwanzig. Zwanzig Minuten mit der Bohnerkeule sind eine lange Zeit, ein ganzer Flur: vom Zimmer des Polit und den Toiletten aus entlang der Türen der Zugchefs, des KC und der Waffenkammer, vorbei am Treppenhaus und der Schreibstube, dann zwei Türen erster Zug, zwei zweiter, zwei dritter, Waschraum, Treppenhaus, die Unteroffiziere, Fernsehzimmer, Klubraum.
    »Hörst du, Spitzel, was er sagt? Warum weigert sich Spitzel?«
    »Der spricht nur mit dem Polit – gewählter Ausdruck, Käffchen, Milch, Zucker, ›Duett‹, alles vom Feinsten.«
    »Geh jede Wette ein, der macht’s Maul nicht auf, macht der nicht auf!«
    Diese Stimme erkannte Edgar nicht. Die beiden anderen waren Mehnert und Pitt, Pitt, das rosa Schwein mit seinen Sprüchen.
    »Dann muß er was zu fressen kriegen«, sagte Mehnert.
    »Knöpf ihn auf«, rief der, den er nicht erkannte.
    Edgar hatte gedacht, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Deshalb war es ihm leichtgefallen, sich weiter mit dem Spitzel zu unterhalten. »Niemand darf sich etwas anmerken lassen«, hatte Mehnert gesagt. »Wenn die Wind davon kriegen, versetzen sie ihn oder machen sonstwas«, obwohl keiner wußte, was Mehnert mit »sonstwas« meinte. Mehnert war so weit gegangen, sich bei dem Spitzel Geld zu borgen. Im Gegenzug wollte er ihm Ausgang verschaffen. Der Spitzel hatte ihm dreißig Mark gegeben, den Ausgang aber abgelehnt. »Da habt ihr’s«, hatte Pitt gesagt. »Jetzt, da bei den Polen der Teufel los ist, brauchen die alle Augen und Ohren hier drinnen.« Der Spitzel war vorsichtiger geworden. Er schrieb jetzt weniger und nur noch, wenn er allein war. Aber vorhin hatten sie ihn wieder erwischt.
    Heute war der neunte Tag. Seit neun Tagen wußte Edgar, was mit dem Spitzel passieren würde, mit dem Spitzel, der in seiner Gruppe war, dritter Zug, zweite Gruppe.
    »Wir wollen deine Stimme hören, Spitzel, du weißt so viele Worte, gebildete Worte, richtig schöne Spitzelworte.«
    »Ich hab doch gesagt, Spitzel wird nicht antworten, Spitzel braucht Hilfe, Spitzel braucht Anregung, Spitzel braucht uns.«
    So unangenehm die Sache mit dem Spitzel war, sie vertrieb dumme Gedanken. Jedenfalls besser als das Gesinge. Edgar verstand nicht, wie man freiwillig von Kompanie zu Kompanie ziehen und Weihnachtslieder singen konnte, als wäre

Weitere Kostenlose Bücher