Neue Leben: Roman (German Edition)
bin es, dein Pentheus, dein Sohn, du selbst hast mich geboren, erbarme dich, Mutter, töte mich nicht, weil ich Schuld auf mich lud, ich bin doch dein Kind! Agaue aber, seine Mutter, packt die rechte Hand, stemmt sich mit dem Fuß gegen seinen Körper und reißt die Schulter heraus … Nach dem Gemetzel fällt Pentheus’ Kopf in die Hände seiner Mutter. Die pfropft ihn anstelle des Pinienzapfens auf den Thyrsosstab und trägt ihn dem Triumphzugvoran in die Stadt. Agaue rühmt sich, als erste das Wild berührt und getötet zu haben, und fordert den Chor auf, am Mahl teilzunehmen. Entsetzt lehnt der Chor ab. Agaue streichelt dem Kälbchen, das sie in Händen zu halten glaubt, den Flaum am Kinn. Ihr Sohn Pentheus, prahlt sie, würde sie loben für ihre Jagd, für ihren Fang. Wem da nicht die Tränen kommen«, sagte Rudolf Böhme, »der hat keine mehr zu verlieren.«
Als sie sich wenig später vom Tisch erhoben, stand Titus’ Entschluß bereits fest. Er trat an das große Wohnzimmerfenster und sah auf die Stadt.
Sie lag ausgestreckt vor ihm, und Stimmen sagten: Wir sind dein Volk, und in der Luft begann es zu schwärmen von ihresgleichen, da sie ihn riefen, einen von ihrem Geschlecht, der es wagen würde, der sich anschickte zu handeln und seine Schwingen schüttelte, die Schwingen seiner jubilierenden und schrecklichen Jugend.
Er hatte es einmal auswendig gelernt, nicht fehlerfrei, doch beinahe.
Titus wollte mit Joachim sprechen, mit ihm allein. Titus fürchtete, daß sie auch auf dem Heimweg nicht ungestört sein würden. Aber Joachim wich nicht von Rudolf Böhmes Seite.
Als sie schließlich alle gemeinsam zur Garderobe gingen, verabschiedete sich Titus als erster und trat hinaus vor die Tür. Er bebte vor Ungeduld. Jeder Augenblick, den er weiter allein blieb und den Joachim ihn warten ließ, bedrohte seinen Entschluß. Doch sobald er Joachim seinen Entschluß mitgeteilt haben würde, gäbe es kein Zurück mehr. Titus wollte endlich anders sein, aufrecht, gut. Er erschauerte, als fiele die Entscheidung nicht übermorgen in der letzten Stunde, sondern jetzt, jetzt gleich.
Der Wind war stärker geworden, der Himmel schwarz. Die Straßenbeleuchtung blinkte hinter den Bäumen auf, das einzige Licht weit und breit. Er hörte die Stimme von Rudolf Böhme und die von Martin. Die Mädchen suchten etwas. Bernadettes Mutter bot ihnen an, bei ihnen zu übernachten. Die Mädchenlehnten ab. Rudolf Böhme wiederholte die Einladung. »Los, komm, komm!« flüsterte Titus. Die Hände in den Taschen seiner Kutte, schlug er sich gegen die Hüfte, fuhr herum und stieß mit der Schulter stärker als gewollt die Haustür wieder auf. Erstaunt sah man ihn an, wie einen Neuankömmling. Titus lächelte. Da war er wieder, der Geruch des Hauses, dieser Duft, betörender denn je. Und so als folgte er einer Bitte, trat Titus wieder ein.
4
Als Titus erwachte, war ihm das taghelle Zimmer seltsam fremd. Neben dem Wecker lag das aufgeschlagene Märchenbuch, in dem er gelesen hatte, um sich zu beruhigen.
So wie er manchmal den Kopf vom Kissen hob, um zu prüfen, ob die Kopfschmerzen noch da waren, so suchte Titus nun nach dem Entschluß, den er gestern gefaßt hatte. Doch sein Nein zur Armee hatte das Niemandsland des Schlafes unversehrt durchquert und war bereits ein Teil von ihm. Titus fühlte sich so stark und sicher, daß er am liebsten den Sonntag übersprungen hätte.
Er begann mit seinen Liegestützen, erhöhte das Pensum sogar um zwei und kam nach vierundvierzig keuchend und hellwach auf die Beine.
Er begrüßte den Großvater, der vor dem Radio saß und sein Gesicht verzog, als Titus ihm einen Kuß auf die Wange gab. Der Tisch in der Küche war für ihn gedeckt. Nur Brotkrümel und das Tee-Ei im Waschbecken verrieten, daß er zu spät kam. Beim Essen geriet er in eine merkwürdige Stimmung, weil alles, worauf er sah, ihn an irgend etwas erinnerte. Und so erkannte er wieder in den weißen Fliesen über dem Herd, die nach der Verlegungdes Ofenrohrs inmitten der wolkengrauen Fliesen angebracht worden waren, einen auf zwei Beinen tanzenden Hund, mit dem seine Schwester früher lange Gespräche geführt hatte. Die Kaffeedose mit der holländischen Schneelandschaft, der Stoffkalender von vor drei Jahren mit den Schwarzwaldmädchen, der amöbenartige Fleck an der Decke – Titus sah all das an diesem Morgen wie zum ersten Mal. Er fühlte sich als Gast. Die seltsame Ferne zu den Dingen gefiel ihm.
Im Hausaufgabenheft waren die Spalten für
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