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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Musik, Staatsbürgerkunde, Russisch und Sport leer, für Mathe und Physik gab er sich zwei Stunden.
    Dann war Titus etwas verunsichert, weil er so schnell vorankam. Gleichungen mit zwei Unbekannten.
     
    [Brief vom 31. 5. 90]
    da es nicht mehr auf Zensuren ankam – nach der Zehnten würde man ihn als Wehrdienstverweigerer auf jeden Fall hinauswerfen –, spürte er allmählich wieder Boden unter den Füßen. Bevor er sich an die Physikaufgaben setzte, machte er sein Bett und hob vom Boden auf, was herumlag: das Fremdwörterbuch, die Märchen, den Wecker, zwei Ansichtskarten aus Greifswald und Stralsund, die seine Schwester ihm geschickt hatte, das Fernsehprogramm von letzter Woche und die »Sächsische Zeitung«, die ihm der Großvater neuerdings ins Zimmer legte. Titus packte den Ranzen, ohne Petersens Buch zu berühren, und genoß den Anblick des bis auf Physikbuch und Hefter leeren Schreibtischs. Er schlug Seite 144 auf. Die Aufgabe 62 lautete: Berichten Sie über das Leben und Wirken von Isaac Newton! Arbeiten Sie dazu den Lehrbuchabschnitt S. 33 bis 35 durch! Als weiterführende Literatur ist zu empfehlen: Wawilow, S. I.: Isaac Newton, Berlin 1951. Aufgabe 63: Erklären Sie den Unterschied zwischen der Masse eines Körpers und der Gewichtskraft eines Körpers!
    Titus fühlte sich stark und klug. Wie Joachim würde er alle Hausaufgaben auf Anhieb lösen. Zehn Minuten später verstaute er die Physiksachen im Ranzen. Am liebsten hätte er sich schon jetzt die Pausenbrote für Montag geschmiert, um den Ranzen erst wieder in der Schule öffnen zu müssen.
    Obwohl es noch früh war, bereitete Titus das Mittagessen vor, schnitt die Würstchen in die Kartoffelsuppe und deckte, als wäre seine Mutter zu Hause, den Tisch im Wohnzimmer, die Maggiflasche stellte er auf einen Untersetzer. Wenn der Großvater vom Spaziergang kam, sollte er sich um nichts kümmern müssen.
    Zu Hause mußte er nicht helfen. Nie hätte seine Mutter von ihm verlangt, Kartoffeln zu schälen oder Wäsche aufzuhängen. Ihm selbst wäre das wie Kinderarbeit vorgekommen. Er wußte nicht, wie aus harten Körnern weicher Reis, wie aus rohem Fleisch ein eßbares Gericht gemacht wurde. Noch im Sommer hatte er einen Teebeutel in ein Glas mit kaltem Wasser gehängt. Aber all das hätte er trotzdem lieber gelernt, als unter ihrer Aufsicht zu üben: Deklinationen, Konjugationen, das Umstellen von Gleichungen, Prozentrechnung, Kommasetzung … In der siebenten Klasse durfte keinesfalls eine Drei auf dem Zeugnis stehen; über Dreien redeten sie gar nicht. In den Hauptfächern mußten es Einsen sein, und wenn er das schaffte, war eine Zwei in den Nebenfächern reine Faulheit und erst recht nicht zu akzeptieren. Er sollte nicht dort bleiben, wo die Dummen und Faulen waren.
    Obwohl ein Sonntag, der den Namen verdiente, die Anwesenheit seiner Mutter brauchte, so war er jetzt froh, sie erst wiederzusehen, wenn bereits alles entschieden sein würde. Denn in ihren Augen würde alle Anstrengung, alles Üben und Bangen umsonst gewesen sein, überflüssig die Freude über eine Eins, der Kummer angesichts einer Zwei und erst recht die Verzweiflungbei einer Drei. Ach, Mutter, wollte er sagen. Es ist kein Opfer, was ich bringe, im Gegenteil, es ist eine Befreiung, eine Auferstehung. Ich habe doch gar keine Wahl. Ich habe es tun müssen, weil sich sonst alles in Sinnlosigkeit auflösen würde. Wenn Wahrheit und Lüge, richtig und falsch, gut und böse ihre Bedeutung behalten sollen, muß ich
nein
sagen.
    Ihm war, als könnte er zum ersten Mal wirklich frei atmen. Erlebte er nicht gerade im Augenblick jene Freiheit, von der all jene berichtet hatten, die bereit gewesen waren, sich zu Jesus zu bekennen und ihr Kreuz auf sich zu nehmen? Begann nicht erst jetzt das Leben? Wie hatte er es nur ausgehalten, solch ein Duckmäuser zu sein, wie unnötig waren doch all diese Verbiegungen!
    Titus hörte den Schlüssel in der Wohnungstür. Er zündete die Kerzen an und legte die Platte mit den »Brandenburgischen Konzerten« auf den Plattenspieler.
    »Du sollst deine Mutter anrufen«, sagte der Großvater, nachdem er sich gesetzt und das Maggi verrührt hatte.
    »Hast du mit ihr gesprochen?«
    »Du sollst sie anrufen«, sagte der Großvater.
    Titus versuchte sich vorzustellen, wie sein Leben am nächsten Sonntag sein würde. Er konnte nicht sagen, was das Wohnzimmer dann von dem jetzigen unterscheiden würde, außer daß seine Mutter mit am Tisch sitzen würde. Aber es würde ein ganz

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