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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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er hinauswollte. Doch Marion stimmte in die Selbstgeißelung ein. Plötzlich war ihnen wieder kein Artikel gut genug. Es war völlig absurd. Sogar Jörg streute sich Asche aufs Haupt und konnte nicht mehr verstehen, warum sie die Alt-Offizielleneingeladen hatten. Als ich fragte, wem diese Einladungen denn geschadet hätten, war es erst einmal still. »Unserem Ansehen«, sagte Georg schließlich, und Marion fügte hinzu: »Unserer Würde!«
    »Meiner nicht«, antwortete ich, worauf das große Schweigen ausbrach, das wir erst gestern wieder los wurden.
    Sei umarmt, Enrico
     
    PS : Am Sonntag sollen wir angeblich von einer protestantischen Kanzel herab als Götzendiener gescholten worden sein – wegen des Horoskops auf der vorletzten Seite!

 
     
    Dienstag, 20. 2. 90
     
    Liebe Frau Hansen!
    Wenn Sie wüßten, welche Überwindung es mich gekostet hat, Frau *** nach Ihrer Adresse zu fragen! Wie ein Vierzehnjähriger habe ich mich gebrüstet, Sie hätten mir eine Führung durch Rom versprochen. 60
    Mir tut es leid, daß ich Ihnen so wenig helfen konnte und Sie obendrein unseretwegen die Museumsleute verpaßt haben. Als Wiedergutmachung lege ich das Reclambändchen 61 und noch einpaar Materialien zum Pavillon bei. Für Frau *** habe ich ein Dutzend Interviewpartner aufgelistet und bereits an sie geschickt. Ich finde ja, daß es letztlich keine Rolle spielt, mit wem sie spricht. Die beste Auswahl ist der Zufall. 62
    Wann wollen und können Sie wiederkommen? Dies zu wissen wäre in jeder Hinsicht schön.
    Herzlichste Grüße, Ihr Enrico T.

 
     
    Sonnabend, 24. 2. 90
     
    Lieber Jo!
    Gestern kam Barrista die lange Treppe des katholischen Pfarramtes heruntergesprungen, als wären wir verabredet. Der Mann, mit dem er vor der Tür gesprochen hatte, beobachtete uns, ohne sich von der Stelle zu rühren. Deshalb glaubte ich, Barrista werde wieder zu ihm zurückkehren. Er aber bat, sich mir anschließen zu dürfen, und saß auch schon auf dem Sozius, der Wolf hinter uns in der Mitte. Er habe einen Fund gemacht, »eine Madonna«, sagte Barrista, »eine Madonna, Herr Türmer, eine Madonna … Und niemand weiß, woher sie stammt.« Er war nicht wiederzuerkennen, so lebendig sprach er, ganz ohne Akzent und Gespreiztheit.
    Ihm sei es gleichgültig, wohin ich fahre, keinesfalls solle ich Rücksichten nehmen, notfalls werde er warten und den Hund ausführen. Als ich vor Anton Larschens Gehöft hielt, unterbrachich Barrista in seiner Madonna-Schwärmerei. Er überhörte meine Worte und folgte mir samt Wolf. Ich mußte deutlicher werden und ihn bitten, mich ein paar Minuten zu entschuldigen. Prompt blieb er mitten auf dem Hof stehen, murmelte irgendetwas und schien erst jetzt zu bemerken, wohin er geraten war. Ein paar Hühner nahmen Reißaus, und nebenan kläffte ein Hofhund. Anton Larschen erschien, noch bevor ich die Klingel an der Haustür gefunden hatte. Er faßte mich am Ellbogen und führte mich zu einer niedrigen Tür, kommandierte Barrista heran und beharrte darauf, uns als Gäste bewirten zu dürfen. »Zehn Minuten!« rief er und kletterte vor uns eine steile Stiege hinauf, die ich aus freien Stücken nicht betreten hätte. Auch Barrista zögerte. Der niedrige Raum war völlig überheizt, das Bett, der einzige Gegenstand von normaler Größe, erschien riesig. Anton Larschen beeilte sich, ein drittes Gedeck aufzulegen, schloß den obersten Knopf seiner Jacke und zupfte an beiden Hosenbeinen. Er trug keine Strümpfe, bei jedem Schritt zeigte sich eine nackte Ferse in den Filzpantoffeln. Die Spitze seines weißen Haarturms streifte die Deckenbalken. »Bitte!« rief er. Wir nahmen an dem Tischlein Platz, er verschwand wieder nach unten.
    »Bonfortionös!« flüsterte Barrista und hielt die Tasse gegen das Licht. Ich weiß nicht mehr den Namen, doch offenbar besaß Larschen chinesisches Porzellan. Das Zimmer wirkte wie ein Museum, so perfekt war die Ordnung. Nur auf dem Radio herrschte Chaos: ein ramponiertes Messemännlein, ein Karlsbader Trinkbecher, ein Flaschenschiff, ein Stopfpilz, eine Strohpuppe, ein paar gerahmte Photos und anderes mehr standen oder lagen dort durcheinander. Der Wolf hatte sich vor einem dunkelblau bezogenen Sessel ausgestreckt und blinzelte in die Lichtbalken, die Fenster waren kaum größer als Dachluken. Ich wollte Barrista gerade etwas über Larschen sagen, als dieser mit der Teekanne in der Hand schon wieder die Stiege erklomm. Erreichte uns einen Teller mit Anisplätzchen und Ingwergebäck (Barrista

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