Neue Leben: Roman (German Edition)
Zufälle herausreden, doch Ihre Freundin/Kollegin saß genau in unserer Blicklinie. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich bemerkte die Reaktion und hatte auch gar nichts dagegen, weil ich fürchtete, mich sonst zu schnell zu verraten. Das können Sie mir vorwerfen. Aber nur das!
Wie Sie am Fensterbrett lehnten, den Photoapparat in Ihren Händen – ich war glücklich, mit Ihnen in einem Raum zu sein, und bemühte mich, Sie nicht zu oft anzustarren, also zwang ich mich, nur selten in
Ihre
Richtung zu blicken. Aber meine Blicke waren nicht mißzuverstehen. […]
Warum sind Sie mir in den Garten gefolgt? Wieso jetzt diese Vorwürfe? Wieso hat sich Frau *** nicht gleich bei Ihnen beschwert? Ich begreife das alles nicht! 69
Um ganz offen zu sein: Als Sie beide gegangen waren, sagte ich: Diese Frau ist gefährlich, und natürlich wußte jeder, an wen ich dabei dachte. Ich meinte das allgemein, unpersönlich – daran muß ich jetzt denken.
War das Interview nicht längst zu einem Verhör geworden? Ohne Ihren erlösenden Einwurf hätte es mit einer Verurteilung Georgs zum »Ewiggestrigen« geendet. Wir sind keine Kinder. Ich will gar nicht von dem fordernd unter die Nase geschobenen Mikrophon reden. Und ich nörgle auch nicht an dem scharfen Tonfall herum, in dem ihm eine schriftlich ausformulierte Frage nach der anderen vorgesetzt wurde. Wer kann schon, ohne daß Zeit zum Nachdenken bleibt, auf selbem Niveau antworten?
Was Georg »das eigentliche Leben« genannt hat, wurde bei ihr zu »existentiell«. Sie zitierte ihn mit »nebensächlich«, wo er den Mauerfall als »logische Konsequenz« bezeichnet hatte. Sie brachte ihn dazu, sich ständig zu rechtfertigen.
Ihr Ausruf: »Aber man muß doch das Mittelmeer sehen!« ist der schönste Satz, den ich je gehört habe. Er war eine Erlösung! Ja, ich will das Mittelmeer sehen!
Kein Wort von all dem, was Sie sagten, habe ich vergessen. Als Sie über das Glück sprachen, an einem Ort wie diesem leben zu dürfen, der solche Pracht beherberge, und daß jeder Weg nach Italien über Altenburg führen müsse – ja, ich weiß, Sie bezogen es auf das Museum … Für mich war es ein Gleichnis, ein Versprechen, und so nah neben Ihnen stehen zu dürfen schon eine Erfüllung.
Ich sehe diesen hellen blaßblauen Streifen am Horizont, in den die Kegel 70 von Ronneburg ragten, die Sie Pyramiden nannten, und diese schwere schwarzgraue Wolkendecke über uns, unter der bereits die Straßenbeleuchtung angegangen war, so daßwir über die Stadt sahen, als schauten wir aus einem Zimmer heraus. Und wie wir dann unser Gespräch unterbrachen, weil dieser Wolkenstreifen orangefarben aufleuchtete. […] An mehr will ich Sie gar nicht erinnern.
Ihr Enrico Türmer
Montag, 5. 3. 90
Lieber Jo!
Wie findest Du die Zeitung? Letzten Donnerstag sind Robert und ich wieder tausend Exemplare losgeworden. Michaela aber ist verzweifelt. Sie hatte bei der Intendantin die Wiederaufnahme der »Julie« 71 durchgesetzt, nach fast anderthalb Jahren. Flieder 72 war nur einmal kurz da. Er hat einen Tumor im Kopf und wird diese Woche in Berlin operiert. Damit kommt er auch ohne Zutun der Sluminski 73 nicht als neuer Oberspielleiter in Frage. Die gestrige Aufführung, die zweite Premiere sozusagen, von der sich Michaela so viel versprochen hatte, war mit 32 verkauften Karten ein Desaster. Und das, obwohl wir die Wiederaufnahme dank Marion groß angekündigt hatten.
Als ich gegen elf hinüber zum Theater ging – ich hatte ja »Zeitung machen« müssen 74 –, war schon alles dunkel und kein einziges Auto mehr auf dem Parkplatz. Die Pförtnerin verwehrte mir mal wieder den Eintritt. Erstens gehörte ich nicht mehr dazu,und zweitens gebe es keine Premierenfeier, weil es keine Premiere sei, und zum Feiern bestehe erst recht kein Grund! »Zweiunddreißig Zuschauer! Zweiunddreißig! Überlegen Sie mal!«
Als ich die Kantine betrat, rief Michaela gerade: »Oh, ich bin so müde! Ich kann nichts mehr tun! Ich kann nicht bereuen, nicht fliehen, nicht bleiben, nicht leben – nicht sterben! Helfen Sie mir! Befehlen Sie mir, und ich werde gehorchen wie ein Hund!«
Du siehst, ich kann es immer noch auswendig! 75
Zu viert saßen sie da: die Neue von der Requisite mit dem schönen Charlie von der Ankleide und am Erkertisch Michaela und Claudia, ihre Freundin und Kollegin. Claudia verkündete, bis zum Morgen durchzumachen. Ich fragte, wie sie das mit einer halben Flasche Wodka schaffen wollten.
»Weiter«, rief
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