Neue Leben: Roman (German Edition)
Michaela.
»Das war vorhin«, begann Claudia und klemmte sich die Kappe eines Filzstiftes zwischen Oberlippe und Nase. »Jetzt haben wir an was anderes zu denken!« Bei den letzten Worten warf sie sich über den Tisch und prustete los. Der schöne Charlie applaudierte und versuchte mitzulachen.
»Wenn du mich fragen würdest, wie es gewesen ist, nur mal angenommen, du würdest mich fragen«, erwiderte Michaela, »dann würde ich auf der Stelle antworten – na? Was würde ich sagen? –, würde ich sagen …«, und nach einem kurzen Auflachen: »Berauschend!« Mit großer Geste präsentierte sie mir die leere Kantine.
So ging es weiter. Du kannst es lächerlich nennen oder genial, was die beiden da aufführten, ich aber bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Claudia habe ich im Verdacht, daß sie denFehlschlag genoß. Für sie war es damals eine Demütigung, nicht die Julie spielen zu dürfen.
»Sind Sie nicht mein Freund?« fragte Michaela und sah die von der Requisite an. Es entstand eine Pause, in der Michaela die Ärmste fixierte, bis diese errötete und piepste: »Ja, natürlich will ich Ihre Freundin sein.« Claudia konnte ihr Gekicher nicht unterdrücken.
»Fliehen? Ja – wir werden fliehen!« fuhr Michaela fort. »Aber ich bin so müde! Geben Sie mir ein Glas Wein!« Charlie erhob sich, um ihr den Rest Wein einzuschenken. Michaela schien irgendeiner Erkenntnis auf der Spur zu sein, als nehme sie etwas wahr, was ihr bisher entgangen war. Ihr Satz »Wo haben Sie gelernt, sich so auszudrücken?« ergriff sie wirklich. Nach einer Pause, in der sie sich kerzengerade aufsetzte, verkündete Michaela todtraurig: »Sie müssen viel im Theater gewesen sein.«
Niemand lachte. Es war gespenstisch.
»Ausgezeichnet! Sie hätten Schauspieler werden sollen.«
Die Stille war atemlos wie nach dem letzten Ton eines Requiems.
Michaela ließ sich widerspruchslos von mir hinausführen. Ich habe ihr geraten, sich krank schreiben zu lassen, aber sie will nicht, das sei nichts für sie.
Ich kann sie nicht trösten! Das Theater ist mir vollkommen fremd.
In der neuen Ausgabe haben wir ein Interview mit Rau 76 . Jörg durfte es machen, nicht die LVZ . Rau hielt auf dem Markt eine Rede, lobte die »privatere Art« des Lebens im Osten und hat nun Sorge, daß durch die »Sucht nach der D-Mark die alle so werden, wie wir schon sind«. Auch er scheint die Seele im Ostenzu suchen. Soll er nur. Dann hat er einfach geplaudert, als Skatspieler sozusagen, und erklärt, wie man richtig wählt, und sechs Busse aus Nordrhein-Westfalen – sogar die alte Werbung ist noch drauf – dem Altenburger Kraftverkehr geschenkt. Michaela war sauer, weil ausgerechnet Karmeka, ein Zahnarzt, der sich im letzten Herbst schön still verhalten hat, jetzt als Vertreter des Runden Tisches die Schlüssel von Rau entgegennehmen durfte. Morgen kommt Otto von Habsburg auf Einladung der DSU . Die hat schon mal Flugblätter verteilt: »Hätten wir sie aufgehängt, wären wir nicht besser als sie, die mit Stasi und Schießbefehl regiert haben.«
Clemens von Barrista und sein Wolf sind überall und nirgends. Am Freitag stieg er aus einem breiten schwarzen Amischlitten und bat uns um Wasser für Astrid, den Wolf. Auf meine Frage, ob er einen Kaffee möchte, reagierte Barrista überschwenglich, als erfüllte sich sein heimlicher Wunsch. Zusammen verließen wir die Redaktion. Ich mußte nach Lucka. Ob er mich begleiten dürfe? »Ja«, sagte ich, »natürlich!« Daraufhin öffnete er die Tür des schwarzen Autos und warf mir den Schlüssel zu. Der Wolf sprang hinein. Ich lehnte ab. Mir war es sowieso ein Rätsel, wie er mit diesem Schlitten durch die Frauengasse gekommen war. Ich solle es einfach versuchen, es sei ein Kinderspiel, ich werde schon sehen!
Wie recht er hatte! Sanft schaukelten wir durch die Stadt und brausten dann los. Ich spürte den Atem des Wolfes an meinem rechten Ohr. Alle Angst war verflogen! Plötzlich wurde es hell und laut – Barrista hatte das Dach zurückgeklappt.
Zwanzig Minuten später fuhren wir beim Rat der Stadt Lucka vor. Den Zündschlüssel ließ ich stecken, der Wolf sprang nach vorn.
Bei meinem ersten Besuch im Januar, Robert war mitgekommen, hatten wir Frau Schorba, die Sekretärin des Bürgermeisters,weinend und zusammengesunken auf ihrem Stuhl gefunden. Ich hatte ihr schließlich ein Taschentuch angeboten. Bis heute weiß ich nicht, was vorgefallen war, doch als sie mir bei meinem nächsten Besuch das Taschentuch
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