Neue Leben: Roman (German Edition)
sagen wagten, zum Beispiel, daß der Westen besser ist als der Osten, daß wir nicht in den Westen fahren dürfen, obwohl wir das wollen. Wenn alle anderen auf Arbeit gingen, würde ich zu Hause bleiben und schreiben. Betrat ich eine Gaststätte, würden sich alle nach mir umdrehen. Denn alle kannten meine Rede, in der ich den Staat angeklagt hatte. »Wenigstens einer«, würden sie flüstern, »wenigstens einer, der den Mund aufmacht.« Ich und meine Familie aber hätten ein schweres Leben, denn der Regierung wäre ich ein Dorn im Auge.
Das kalte Wasser riß mich aus meiner Traumwelt. Meine Mutter nannte mich gedankenlos und egoistisch, weil ich ihr kein warmes Wasser übriggelassen hatte, obwohl sie es gewesen war, die den Ofen geheizt und das Holzstückchen wieder an den Recorder geklebt hatte.
Ihre Vorwürfe trafen mich doppelt. Ich mußte schweigen. Eines Tages jedoch würde ich darüber schreiben, und meine Mutter würde es lesen und schließlich verstehen, daß dies kein Egoismus gewesen war und auch keine Gedankenlosigkeit, sondern das genaue Gegenteil davon. Sie würde stolz auf mich sein, lachen und zugleich ein bißchen weinen müssen, weil sie von der Geburt des Schriftstellers nichts geahnt hatte, obwohl diese vor ihren Augen geschehen war.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, lächelte ich, als ich das graue Buch neben dem Kopfkissen erblickte. Wie brüderlich fühlte ich für Martin Eden. Und dann lächelte ich darüber, daß ich gelächelt hatte.
Ich fuhr zum Bäcker und wartete, bis der Dorfkonsum öffnete. Mein erstes Schreibheft, eine A5-Kladde, versteckte ich im Schuppen.
Nach dem Frühstück verzog ich mich in den Liegestuhl. Doch zum Lesen war ich zu aufgeregt. Mich drängte es, das Erlebte festzuhalten, ich fürchtete, etwas zu vergessen. In einem unbeobachteten Augenblick brach ich auf, die Kladde unterm Hemd, den Kuli in der Satteltasche. Am Ort meiner Bekehrung würde ich meinen ersten Satz schreiben! Den ersten Satz eines großen Dichters. Denn weder damals noch später hegte ich irgendwelche Zweifel an meiner Begabung.
Als ich endlich ansetzte, versagte der Kuli. Deshalb beginnen meine Aufzeichnungen vor Datum und Uhrzeit mit wilden Kringeln. Punkt zehn schrieb ich schließlich: »Gelobt sei Jesus Christus!«
Was dann geschah, ließ sich nur mit dem Wirken des Heiligen Geistes erklären. Er führte meine Hand sieben Seiten lang, ohne daß ich auch nur einmal stockte, ohne daß ich auch nur ein Wort verbessern mußte. Die Formulierungen begeisterten mich selbst. Ich schenkte der Welt etwas, was sie in dieser Form noch nicht kannte. Selbst wenn ich nie wieder eine Zeile zu Papier bringen sollte, diese hier würden bestehenbleiben!
Bei meiner Rückkehr ereignete sich etwas Merkwürdiges, das mich, jetzt schon mit Wundern vertraut, ängstigte. Auf dem Blechdach unseres Häuschens lag Schnee! Ich stieg vom Rad. Was ich sah, sah ich: Schnee! Ein Schneefeld von der Größe unseres Blechdaches. Nirgendwo sonst war es weiß, selbst als ich schon die Hälfte des Grundstücks überquert hatte, waren Anschauung und Urteilskraft nicht zu vereinen. Plötzlich stand meine Mutter vor mir. »Träumst du?« rief sie. Mein Blick aber blieb auf das Blechdach gerichtet. »Schnee«, sagte ich. »Stimmt«, sagte sie. »Das leuchtet wie Schnee.«
Nun kamen glückliche Tage. Morgens zwischen sieben und acht saß ich bereits an einem kleinen Tisch in vollkommener Stille, beobachtete die Sonne, wie sie vorsichtig mit ihren Spinnenarmendurch die Kiefern tastete, sich aufs Moos legte, das meine Mutter mit der Harke von Nadeln und Zapfen befreit hatte, und es zum Leuchten brachte. Die Kladde lag unter dem aufgeschlagenen Martin Eden, und sowenig das Buch sie verdeckte, gab auch ich mir keine Mühe mehr, meine Berufung zu verbergen. Es war gar nicht möglich. Denn ich wechselte so häufig zwischen Buch und Kladde hin und her, daß Lesen und Schreiben zu ein und derselben Tätigkeit wurden, der einzigen, zu der ich Lust hatte und zu der ich geboren schien. Plötzlich fand ich in mir hundert Gedanken, wo früher kein einziger gewesen war.
Ich erinnere mich allerdings kaum noch an Martin Eden und an nichts mehr, was ich damals schrieb. Heute scheint es mir, als hätte ich das alles nur betrieben, damit sich zwischen den Seiten die Welt verfing, um mir nun, in der Erinnerung an diese Tage, mit all ihren Geräuschen, Gerüchen und Farben in den Schoß zu fallen. Würde ich mich sonst an die Igelit-Tischdecke 98
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