Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
ein. Plötzlich schrie jeder irgendwas, man lästerte und höhnte über die Leute, die die Prognosen gemacht hatten. 108 Ich kämpfte mich hinaus und stieg im Garten den Hang hinauf.
    Eine Stunde später waren nur noch die Gießener da und ein paar Austräger. Sie saßen um den Tisch, auf dem das Radio stand, und schwiegen. Es gab immer einen, der den Kopf schüttelte. Die Gießener fällten das härteste Urteil, sprachen von Verrat, Verrat an den Ideen des Herbstes, und verzichteten nun sogar auf die Geschichte um Hans Schönemann.
    Sie waren die einzigen, die ordentlich zugriffen, als Franka einen Teller mit Broten hereinstellte. Georg hatte sich irgendwohin verkrochen, Jörg starrte zwischen seinen Ellbogen auf den Tisch, scheuchte Georgs Jungen wieder hinaus und schaltete schließlich das Radio aus. Im selben Moment klingelte das Telephon. Vielleicht hat auch das Telephon zuerst geklingelt. Jörg, der am nächsten saß, griff endlich nach dem Hörer. Er sagte »hallo«, wiederholte es lauter und brüllte schließlich, daß man nichts verstehen könne. Der Lilafarbene stieß mich an. »DerHörer«, flüsterte er. Ich begriff nicht. »Na, der Hörer«, zischte er. Jörg schrie in die Ohrmuschel, er hielt den Hörer verkehrt herum. Ich machte ihm Zeichen, was ihn noch ungehaltener werden ließ. Ich entwand ihm den Hörer, aber da war schon niemand mehr dran.
    Ich verabschiedete mich, Jörg holte mich an der Haustür ein. Ich sollte den Kommentar für die erste Seite schreiben, rechts, der Kasten, tausend Anschläge, das hat sonst immer er gemacht. Zu Hause überließ ich mich der Vorstellung, Sie würden jetzt im Fernsehen dieselben Bilder sehen.
    Meine tausend Zeichen fielen mir leichter als erwartet. Georg wird sie wohl akzeptieren, bei Jörg bin ich mir nicht sicher. Viel Zeit zum Ändern bleibt nicht. Nach all den Hoffnungen, die ich auf diesen Tag verwendet habe, erscheint mir mein Fatalismus beinahe heroisch.
    In Gedanken bei Ihnen
    Ihr Enrico

 
     
    Dienstag, 20. 3. 90
     
    Lieber Jo!
    Ich hoffe, Ihr habt den Sonntag besser verkraftet als Michaela (was ich von den Wahlen halte, wird auf der ersten Seite stehen). Jenes »Zweikommaneun« kannst Du von Michaela in allen Tonlagen und Schattierungen hören, heute höhnisch, gestern eher verzweifelt, tonlos, dramatisch. Neben ihr kam ich mir vor wie ein Stein. Seit ihr »klartext« zu Grabe getragen wurde, ist Michaela nicht mehr beim Neuen Forum gewesen. Sie blieb auch gegenüber allen Angeboten für die Wahl standhaft, obwohl ihrdie Offerten schmeichelten. Michaela Fürst in die Volkskammer!
    Als hätte sie alles kommen sehen, hat sie sich am Freitag die Haare kurz schneiden lassen. Nicht mal Robert wußte davon. Die Idee sei ihr beim Friseur gekommen. Nun trägt sie so traurig wie unnahbar ihren Nofretete-Kopf. Wenn ich sonntags gegen halb neun aufbreche, vergißt sie nie, mich zu fragen, ob ich mir mein neues Leben so vorgestellt habe. Hoffentlich sieht sie niemals die Menschenschlange am Bahnhof, die auf die »Bild«-Zeitung wartet.
    Am Sonntag erschien Michaela in einem Kleid, das sie von Thea bekommen hat, eher etwas für die Oper. Die Austräger und Forumsleute, die sich bei uns drängten, empfingen sie, als hielte endlich die rechtmäßige Herrscherin Einzug.
    Nach der ersten Prognose bewahrte sie Haltung. Solange es Leute gab, die um sie herum verzweifelten oder wie Marion in Tränen ausbrachen, konnte Michaela sogar trösten. Sie wiederholte mehrmals, daß noch nicht aller Tage Abend sei. Die einen schimpften auf Bohley und Konsorten, weil die immer nur ihr Berliner Ding gemacht hätten, die anderen verdammten die Westgrünen, weil die weder Ahnung noch Geld hätten. Marion sagte dann, wir seien einfach nicht hart genug gegen die Bonzen gewesen. Wir hätten uns durch falsch verstandene Fairneß selbst um alles gebracht, warum hätten wir denn nicht alle Stasilisten veröffentlicht und die alten Parteien verboten? Wozu hätten wir denn Lenin in der Schule gelesen?
    Nach einer halben Stunde hatte sich die Empörung erschöpft. Mit jedem, der sich davonstahl, verlor Michaela an Kraft. Man verabschiedete sich nicht mal mehr voneinander. Die einfachsten Sachen mißlangen: Kippen ließen sich nicht ausdrücken, zwei Gläser wurden kurz nacheinander umgestoßen, man rempelte sich an oder trat einander auf die Füße. Michaela gestand mir heute, für Minuten habe sie nicht mal mehr gewußt, daß MarionMarion heiße. Die Gießener, die hemmungslos mitschrieben,

Weitere Kostenlose Bücher