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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Grund sollten wir nicht mit ihm zusammenarbeiten?
    Woher kennen Sie ihn denn? Oder ist er Ihnen – ich wage es gar nicht zu schreiben – unhöflich oder sonstwie quer begegnet? Glauben Sie mir, auch nur ein Hinweis dieser Art – und er kann bleiben, wo der Pfeffer wächst!
    B. ist abgereist, keiner weiß, wann er wiederkommt.
    Schreiben Sie mir bitte ein paar Zeilen, ich bitte Sie!
    Von ganzem Herzen
    Ihr Enrico

 
     
    Montag, 19. 3. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Bis zuletzt war ich mir sicher gewesen, Sie würden plötzlich in der Redaktion stehen, als gäbe es einen natürlichen Rhythmus, der Sie wieder nach Altenburg bringen müßte. Manchmal durchfährt mich die Angst, Sie könnten krank sein, irgend etwas, eine Folge des Unfalls. Haben Sie sich röntgen lassen?
    Der Wunsch, Sie zu sehen, war so stark, daß ich an seine Beschwörungskraft glaubte. Auch deshalb fuhr ich früh in die Redaktion – und schien belohnt zu werden. Im Flur traf ich auf Georg, und er verhieß mir Besuch, ja, man erwarte mich! Er lächelte so, daß ich keinen Zweifel hegte.
    Und ich – jetzt werfe ich es mir vor, als hätte ich Sie durch meine Dummheit vertrieben – spielte den Ahnungslosen, zuckte mit den Schultern, als könnte ich mir nicht vorstellen, wer das sei, und fragte Georg, was denn anliege, wobei ich hoffte, daß Sie meine Stimme hören würden. Natürlich hatte ich nichts dagegen, daß sich Georg wieder nach oben verzog. Ach, Nicoletta! Diese Augenblicke der Verheißung!
    Drei Gießener Zeitungsleute schlürften Kaffee und freuten sich über ihren neuen Spielkameraden. Einen von ihnen erkannte ich, an seinem lilafarbenen Jackett.
    Ich redete mechanisch mit ihnen. Meine Gedanken hasteten hin und her, doch irgendwann beruhigte mich die Einsicht, daß mir noch etliche Stunden blieben, ja der Tag gerade erst begonnen hatte, also alles vor mir lag, viele Stunden mit vielen Minuten, und in jeder konnten Sie hier eintreten. Unerwartet schnell regte sich wieder das vertraute Glück, das diese Erwartung für mich bedeutet! Die verfrühte Wärme und das Frühlingslicht konnten nichts anderes sein als Ihre Vorboten.
    Die Gießener hatten die Öffnung der Wahllokale beobachtetund sich in die Redaktion verzogen wie in eine Kneipe. Sie glaubten mir nicht, daß ich erst vor einer Stunde aufgestanden war und nicht seit den frühen Morgenstunden recherchiert hatte. Erst als ich sie bat, einen Stimmungsbericht für uns abzuzweigen, verlor sich ihr Argwohn. Ich legte meine Spiegel aus und begann. Ich wollte mir Ihre Ankunft, Nicoletta, verdienen und früh fertig sein!
    Je häufiger die Tür aufging, um so größer schien mir die Wahrscheinlichkeit Ihres Erscheinens.
    Die Gießener, die einzeln ausschwärmten, blieben nie lange weg. Ihre Lieblingsgeschichte war, daß Hans Schönemann, der ehemalige »Kreissekretär für Ideologie und Propaganda«, für die DSU kandidiere. Obwohl ich ihnen gleich gesagt hatte, daß hinter demselben Namen zwei verschiedene Personen stünden, erzählte der Igelkopf die Geschichte immer wieder und überließ es mir, ihn zu korrigieren. Dazu lächelte er dann, als wollte er sagen: Sind Sie sich da sicher?
    Gegen zwei stopfte ich Kuchen in mich hinein und fürchtete, Sie könnten mich mit vollem Mund überraschen. Ich erwartete Sie dann für fünf, allerspätestens halb sechs, jedenfalls noch vor dem Ende der Wahl. Davon war ich so fest überzeugt, als hätten Sie sich gerade telephonisch angekündigt.
    Gegen vier hatte ich alles geschafft und wäre noch früher fertig gewesen, hätte ich nicht mitunter Gastgeber gespielt und das Einrechnen des letzten Artikels hinausgezögert. Ich wünschte mir, Sie würden mich bei der Arbeit finden.
    Franka hatte im Garten auf halber Höhe ein paar Klappstühle aufgestellt, von denen die weiße Farbe abblätterte und am Hosenboden hängenblieb. Wir hatten die Zeitung in Sicherheit gebracht und den Tisch zusammengeschoben. Selbst während der ersten Auslieferung waren nicht so viele Leute in unserer Stube gewesen. Manche von ihnen hatte ich im Oktober oder Novemberdas letzte Mal gesehen. Georg rechnete uns vor, daß alle, die nach 1912 geboren sind, nie an echten Wahlen teilgenommen hatten.
    Als die Uhr wieder schlug, traf mich der sechste Schlag unerwartet. Ich dachte, ich hätte falsch gezählt, doch auch das Kofferradio meldete 18 Uhr. Eingepfercht, wie ich war, schien es mir, als hielten auch die anderen die Luft an, vollkommene Stille. Bis Jörg auflachte. Die anderen fielen

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