Neue Leben: Roman (German Edition)
erwähnten Genossen nun gegen sie klagen. Du wirst es ja lesen.
Georg, der sonst immer alles akribisch protokolliert, saß da mit Wurzelfalten zwischen den Augenbrauen, die Ellbogen aufgestützt, Mund und Nase hinter den Händen in Deckung, und beobachtete Jörg, der den Artikel vorlas. Wenn wir den Artikel bringen, werden wir den Altenburger Ableger von Pipping-Fenster als Kunden verlieren – verlieren bedeutet bei zweispaltig/sechzig und wöchentlicher Schaltung (Jahresvertrag), 50 Prozent Aufschlag letzte Seite immerhin 10 870 Mark, mehr als die Hälfte davon in D-Mark. Und dabei können wir weder die Stichhaltigkeit des Artikels prüfen noch die juristischen Folgen einer Veröffentlichung abschätzen. Wir gehen jemanden frontal an, allein im Vertrauen auf die Umweltleute. Andererseits gibt es niemanden, dem wir mehr Glauben schenken als Anna, der Jeanne d’Arc des letzten Herbstes. Die anderen Zeitungen wiegeln ab. Das Für und Wider hielt sich die Waage. Irgendwann aber ließ sich Georgs Schweigen nicht länger ignorieren.
»Ich will euch vorschlagen«, sagte Georg lächelnd und zog dabei die Schultern hoch, »die Zeitung zu beenden.« Seine Stirn furchte und glättete sich im schnellen Wechsel, während er weitersprach. Bis zu den Kommunalwahlen 135 sollten wir durchhalten, danach sei unsere Aufgabe erfüllt.
Von einem Augenblick auf den anderen ertrug ich sein Lächeln nicht mehr. Ich verachtete ihn. Da gab es nichts mehr abzuwägen. Er wollte uns brotlos machen und aus dieser Stube vertreiben, in die er uns ja überhaupt erst mit seinen Versprechungen geholt hatte! Ich verachtete ihn wegen seines Hochmuts, ein Hochmut, der im Hader mit der Welt liegt, weil sie ist,wie sie ist, der irgendwelchen Ideen, dem Eigentlichen, dem Philosophischen nachjagt, anstatt im Alltag zu bestehen. Alle seine Eigenheiten, die ich teils bewundert, teils nur geachtet hatte – seine bedachtsame Genauigkeit, seine Aufrichtigkeit, seine Zweifel und sein selbstquälerisches Unvermögen, ein paar normale Sätze zu verfassen –, all das erschien mir auf einmal kindisch und verachtenswert, weil er vor sich selbst kapitulierte, weil er nicht mehr bereit war, mit sich selbst zu kämpfen, weil er, um es mit einem Wort zu sagen, verantwortungslos handelte.
»Und was sollen
wir
machen?« fragte Jörg so ruhig und freundlich wie ein Radiomoderator.
Georg, ich weiß nicht, was er erwartet hatte, schien es zu quälen, mehr sagen zu müssen, als er offenbar vorbereitet hatte.
»Wir haben versagt«, wiederholte er, »wir haben unseren Auftrag nicht ernst genug genommen.«
Jörg wollte wissen, welchen Auftrag er meine. Das sei doch wohl jedem von uns klar, fuhr Georg auf und sah mich zum ersten Mal an.
Ich bat ihn, auf Jörgs Frage zu antworten, schließlich hätten wir alle die Brücken hinter uns verbrannt 136 .
»Die Welt steht uns offen!« sagte Georg. »Vergeßt das nicht!«
Jörg hatte sich zurückgelehnt und drückte immer wieder einen Finger auf die Spitze seines Bleistifts, als spielte er Mikado. Marion sprach im Sinne Georgs, ja, sie gab ihm in allem recht, zog daraus allerdings den Schluß, es von nun an anders und besser zu machen.
Danach schwiegen wir wieder.
Als von draußen Schritte zu vernehmen waren, verharrten Jörg und Georg weiter reglos. Ich hörte ein resignierendes Lachenvon Ilona, die Order hatte, uns abzuschirmen. Dann trat der Baron ein, unsere letzte Ausgabe in der Hand. Ob wir schon lange auf ihn gewartet hätten. Er entschuldigte sich und legte ab. Ilona brachte frisches Wasser für den Wolf.
Georg versteinerte regelrecht. Jörg bat Barrista, uns allein zu lassen, die Zukunft der Zeitung stehe auf dem Spiel. Dann war nur noch das Schlabbern des Wolfs zu hören, und selbst das, als hätte die Stille das Tier irritiert, setzte schließlich aus.
Höchst bedauerlich, begann Barrista. Das hätte man ihm eher mitteilen sollen. Auf dem Plan zur Vorbereitung des Besuches Seiner Hoheit, der uns ja in dreifacher Ausfertigung vorläge, sei für heute die erste Besprechung angesetzt. Er habe die Grußbotschaft dabei und den handschriftlichen Brief des Erbprinzen an uns. Höchst bedauerlich, unter diesen Umständen bleibe ihm wohl nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben, höchst bedauerlich auch deshalb, weil die Anzahl der Zuschriften auf seine Anzeige seine Erwartungen bei weitem übertroffen habe, was nichts anderes bedeute, als daß unser Blättchen tatsächlich gelesen werde und für Geschäftsleute
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