Neue Zeit und Welt
türkisfarbene Sonnenlicht gab dem Laub eine unvergleichliche Tönung.
Für Ollie war das beinahe unerträglich schön – die Farben, die Ruhe, das kindliche Lachen –, und es erfüllte ihn mit einer süßen Traurigkeit, die er weder beschreiben konnte noch fahren lassen wollte. Statt dessen hielt er es fest, dieses Leid, und ließ sich davon sättigen mit einer Sehnsucht und einem Geheimnis, von denen er spürte, dass sie Teil seines Menschseins waren, dass er sie deshalb beide zugleich festhalten und abweisen wollte. Es war, als laste eine große feuchte Träne in seiner Brust.
»Salz«, sagte Jasmine unvermittelt.
»Was?« Ollie war aus seiner Versunkenheit aufgeschreckt.
»Da drüben ist eine Salzlecke. Wir lösen im See eine große Menge Salz auf und rufen einen so hohen Tonus hervor, dass die Amöbe viel Wasser verliert. Das wird sie auf jeden Fall schwächen und vielleicht sogar die Enzyme, die für dich gefährlich sind, verändern oder unwirksam machen. Dann schwimme ich zum Zellkern hinunter und versuche von der Kernmembran etwas zu zerreißen – nicht soviel, dass die Amöbe stirbt, aber doch genug, dass sie ihre Energien dort unten sammeln muss. Dann komme ich zu dir zurück, und wir versuchen, ganz schnell zum Fluss hinaufzuschwimmen. Können wir anfangen?«
»Was machen wir als erstes?«
Sie trugen am Wasser Salz zusammen. Hände voll Klumpen, Plättchen und Körner der Salzlecke, in einem großen Haufen am Ufer aufeinander getürmt. Niemand im Lager schien davon besondere Notiz zu nehmen, und sie trugen immer mehr zusammen. Als die Menge nach Jasmines Schätzung groß genug war, warfen sie das Salz ins Wasser – überall, so weit sie konnten. Sie sahen, wie die kleineren Stücke beim Auftreffen sich sofort auflösten.
Jasmine wartete fünfzehn Minuten, dann sprang sie kopfüber hinein.
Sie spürte wieder das leise Knallen, als ihr Körper gleich unter der Oberfläche die Zellmembran zerriss, dann war sie im Inneren des Wesens und schwamm. Das Zellplasma war ein wenig dichter als das Wasser, aber ebenso klar. Jasmine tauchte brustschwimmend immer tiefer hinunter, auf der Suche nach einer dunkleren Stelle oder einer Masse, wobei es sich um den Zellkern handeln konnte.
Je tiefer sie hinunterschwamm, desto mühsamer kam sie voran. Mit jedem Schwimmstoß wurde die Flüssigkeit dichter. Sie brodelte nun auch, zerrte mit Strömungen an ihr, riss ihre Arme in verschiedene Richtungen, drehte sie herum, nahm ihr die Orientierung. Auf der linken Seite sah sie eine Ansammlung von länglichen Gebilden, die Chromosomen oder anderes Kernmaterial sein mochten, aber als sie näher an die Stelle herankam, sah sie, dass das nur menschliche Gebeine waren, die im Plasma schwebten: ein Schädel, Rippen, ein halbes Becken.
Nicht weit von ihren Füßen regte es sich heftig; sie wurde herumgedreht, umgekippt und mit großer Geschwindigkeit in unbekannte Richtung fortgerissen, so dass Haare und Arme hinter ihr nachschleiften. Plötzlich sah sie sich mit einem Knall ans Ufer geschleudert.
Ollie stand vor ihr.
»Hm«, sagte er. »Das hat aber nicht lange gedauert.«
Eine kleine Versammlung hatte sich um sie gebildet, angelockt von der Unruhe. Desireau trat vor. Sie hatte ein junges Einhorn in den Armen, das ruhig schlief, während sie es streichelte.
»Der See will dich nicht«, sagte sie lächelnd zu Jasmine. »Der See will den Schatten.« Sie zeigte auf Ollie.
»Daran werde ich denken.« Jasmines Lächeln wirkte gezwungen.
Die Seebewohner zerstreuten sich. Jasmine und Ollie setzten sich wieder ans Ufer.
»Und der nächste Plan?« fragte Ollie mit vertrauensvollem Lächeln.
Jasmine saß da und starrte auf die Reihen von Hörnern, die überall ringsum im Boden steckten. Die dem Wasser am nächsten waren, zerbröckelten und hatten sich fast völlig aufgelöst; die nächsten Reihen dahinter zeigten eine dünne, spröde Beschaffenheit; die noch weiter entfernten waren nur ausgebleicht, während die Hörner ganz außen praktisch unberührt aussahen.
Jasmine griff nach einem Horn und untersuchte es; in ihrer Hand blieb eine kreideartige Substanz zurück. Sie warf das Horn ins Wasser, wo es rasch versank. Ebenso schnell wurde es wieder ans Ufer geschleudert.
»Spurenelemente«, murmelte sie.
»Was?« sagte Ollie. Er war sich des fahleren Lichts in der Höhle bewusst und fragte sich, wie lange es noch dauern mochte, bis der Mond aufging.
»Sieht so aus, als entziehe die Amöbe diesen Hörnern langsam
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