Neue Zeit und Welt
irgendwelche Stoffe. Vermutlich Spurenelemente, für die metabolischen Bedürfnisse – Kalzium, nehme ich an, Magnesium, etwas Mangan, vielleicht ein bisschen Jod. Aber wie auch immer, in konzentrierter Form mag sie das nicht – ich nehme an, dass manche Elemente giftig sind, andere, wie das Kalzium, wohl inaktiv. Die Amöbe hat also den Drang, das abzustoßen, wenn es in großer Menge auftritt – und verdauen kann sie es ganz gewiss nicht.«
»Und?«
»Wir machen ein Pulver aus zerstoßenen Einhorn-Hörnern, daraus dann eine Paste, und beschmieren dich von Kopf bis Fuß damit, ohne irgendeine Stelle auszulassen. Dann sind wir beide chemisch so inaktiv, dass wir unter die nach oben führende Röhre tauchen und zum Fluss hinaufschießen können.«
»Dann los.«
»Du musst dir nur eines merken: Ich verstopfe dir mit der Paste Nase und Ohren und alles. Du musst aber daran denken, dass du Mund und Augen fest geschlossen hältst. Diese Enzyme zerfressen blitzschnell deine Augen und lösen deinen Körper dann durch die Augenhöhlen auf.«
Ollie seufzte resigniert.
»Aber dann bekomme ich das Innere einer Amöbe nie zu sehen.« Sein Humor war manchmal von grausiger Art, doch nicht ohne seine Funktion: Er löste Spannungen, zumindest bei anderen. Jasmine lächelte, als sie begriff, dass ihr bisheriger Mangel an Erfolg sie verstört hatte und es Ollie mit seinem kleinen Späßchen gelungen war, ihre Sorgen zu lindern.
Sie brachten die nächste Stunde damit zu, Einhorn-Hörner zu einem Haufen weißen Pulvers zu zermalmen. Jasmine holte anschließend einen halben Liter Ersatz-Hämo-Öl aus ihrem Geheimfach im Bauch und verschmierte die ölige Flüssigkeit mit dem körnigen Material, bis aus dem ganzen eine dicke, klebrige Paste geworden war. Langsam und gründlich beschmierte sie Ollies Körper damit.
Symeau kam heran.
»Wozu machst du das?« fragte er neugierig.
»Wir bereiten Ollie für das Festmahl vor«, erwiderte Jasmine. »Das ist genau so, als salze man Kreischerfleisch.«
Symeau nickte.
»Der See wird sich freuen.« Er entfernte sich und arbeitete fleißig an einem Schirm aus Federn weiter.
»Fertig?« fragte Jasmine.
Ollie war mit der schmierigen Kreide überall bedeckt. Nur seine großen Augen bewegten sich in dunklen Taschen; er kauerte wie ein belebtes Skelett.
Auf die kleine Siedlung sank rasch die Nacht herab. Lagerfeuer loderten hoch; man stimmte Gesänge an, überall wurden Mahlzeiten zubereitet. Es war eine altbekannte, sehr menschliche Szene. Ollie ließ sie lange auf sich einwirken.
»Möge euch das Auge des Stromes lächeln«, flüsterte er.
Sie gingen lautlos zum See, wo die aufwärts führende Röhre herausragte.
»Halt dich gut fest«, sagte Jasmine. »Und wenn wir getrennt werden, such nicht nach mir.«
Er lächelte und packte ihren Gürtel. Sie sprang hinein.
Sie wurden durch die Kapillarwirkung des Zellplasmastroms langsam den Pseudofuß hinaufgetrieben. Trotz des Kalziumbelags auf seinem Körper spürte Ollie vom ersten Augenblick des Eindringens an ein warmes Prickeln, vor allem an den Füßen, wo sich beim Gehen am Ufer von der Paste etwas gelöst hatte.
Jasmine schaute während des Hochsteigens zur Membran hinaus auf die zurückbleibenden Gestalten der Seebewohner unten am Boden. Sie schienen glückliche, von Neugier kaum belastete Geschöpfe zu sein; ihre Feuer tanzten am Ufer der Amöbe. Sie wünschte ihnen alles Gute.
Plötzlich wurde Jasmine aus diesen trägen Überlegungen durch den Anprall warmen, gurgelnden Wassers herausgerissen, und sie fühlte, wie sie auf dem Flussbett dahinfegte, während Ollie sich immer noch eisern an ihrem Rücken festklammerte. Sie wurden nach einer halben Meile an das Ufer gespült. Ollie war noch nie so glücklich gewesen, die dampfend-rote Urwaldnacht zu sehen.
»Hm, soviel zu Abkürzungen«, sagte Jasmine mit einem Nicken, als sie am Flussufer lagen.
Ollie stand auf, ging ein paar Schritte in den Regenwald -Richtung Norden, dem Gebirge entgegen –, blieb stehen und schaute sich nach Jasmine um.
»Kommst du?« sagte er.
Sie stand auf und folgte ihm ins Dickicht.
Kapitel 3
Darin braut sich die
Golf-Tide zusammen
D ie Zeit schien Joshua aus den Fugen. Er durchwanderte die Wintergassen von Ma’Gas’ mit jener seltsamen Klarheit, die Mystikern und Psychotikern eigen ist, ein bestimmtes, ganz deutliches Erfassen innerlich zusammenhängender Bilderfolgen, mit unserer Welt der Erde und ihren Koordinaten kaum in einer
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