Neue Zeit und Welt
Was geschah mit ihm? Was ging vor?
Er spuckte in ein Häufchen schmierigen Drecks und rührte ihn mit dem Finger zu einer zähflüssigen Tinte zusammen. Dann riss er einen langen Strohhalm aus der Matte am Boden und ein Stück Leinen vom Bettzeug. Mit dem Strohhalm als Feder, in der ruhigen Befriedigung eines lebenslangen Rituals, begann er dann aufzuschreiben, was ihm widerfahren war.
Jasmine und Ollie erreichten Joshuas Camp nach kurzer Zeit, fanden nichts, das weitere Hinweise gegeben hätte, ließen sich dann von einem Postboot mitnehmen, auf dem sie bei Reparaturen aushalfen – von der Stelle aus, wo es einige Meilen nördlich von Newport auf den Strand gesetzt worden war, bis hinunter nach Ma’Gas’. Dort trennten sie sich: Jasmine besuchte die Kneipen nördlich des Hauptpiers, Ollie die im Süden.
Die erste Taverne im Hafen hieß ›Durstiges Gebein‹. Das Gebäude war erst einige Jahre alt, und Jasmine wusste genau, woran das lag. Bei ihrem letzten Besuch in dieser Stadt, vor mehr als fünf Jahren, hatte es einen Brand gegeben, bei dem die Hälfte der Hafengegend eingeäschert worden war. Gelegt hatte ihn Joshua in der Bar, die Jasmines Freundin Wass betrieben hatte, während Jasmine sich mit der Kapuzenpriesterin duelliert hatte. Das war eine tolle Zeit gewesen, ein Wendepunkt gar.
Sie ließ sich in einer Ecke des Lokals auf einem Stuhl nieder und dachte an die Zeiten in ihrem Leben, die seit ihrer Geburt vor dreihundert Jahren auf irgendeine Weise entscheidend erschienen waren. Ihre Umgestaltung zum Neuromenschen, gewiss – diese während der apokalyptischen mittleren Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts an ein paar tausend verzweifelten Freiwilligen ausgeführte, schier endlose Operation. Jene, die sie überlebten, waren praktisch unsterblich geworden. Nur ihr Gehirn und das Nervensystem waren von ihrem Menschenursprung übrig geblieben. Alles andere an ihr – vom atomar betriebenen Herzen bis zum sauerstoffbefördernden, dickflüssigen Hämo-Öl, das gleichzeitig ihre Teile schmierte und ihre Nerven versorgte – war eine synthetische Schöpfung dessen, was damals westliche Technologie genannt worden war.
Natürlich konnte sie immer noch den Tod finden – das Hämo-Öl konnte aus dem Ventil an ihrem Hinterkopf abgelassen werden; sie konnte ertrinken, wenn es lange genug dauerte. Aber abgesehen von unvorhergesehenem Trauma, sollte ihr Gehirn erstaunlich langsam altern. Noch kein einziger Neuromensch war an natürlichen Ursachen gestorben.
Doch es gab in ihrer Lebensgeschichte noch andere Wendepunkte, in ihrer und in jener der Welt. Der Bakteriologische Krieg, der Atomkrieg; die Klon-Kriege, die zum Tod der meisten Menschen geführt hatten. Das Große Beben und die Eiszeit. Das Vorrücken der Gletscher, als Jasmine mit ihrem Vampir-Geliebten Lon zum ersten Mal Dundees Terrarium erforscht hatte. Ihre Suche vor fünf Jahren mit Josh und Beauty. Lons und Wass’ Tod. Ihre Rückkehr ins Terrarium, um als Königin Rotmasque über die Kinder des Urwalds zu herrschen. Und nun wieder zurück nach Ma’Gas’, zusammen mit Ollie, auf einer neuen Ausfahrt.
Es war ein wildes, gepeitschtes Leben gewesen, aber aus irgendeinem Grund spürte Jasmine, dass die größte Umwälzung noch bevorstand. Ein Brodeln lag in der Luft, wie von einem Topf, dessen Inhalt gleich zu sieden beginnen würde. Sie belächelte ihre Stimmung: ruhig-erregt, wie vor einer großen Schlacht. Sie nahm ihre Furcht zur Kenntnis, ließ sich davon aber nicht vereinnahmen, nützte sie vielmehr als Wetterfahne des Augenblicks oder als ein Werkzeug, um ihre Wahrnehmung zu schärfen, ja, auch jetzt war eine tolle Zeit.
Sie stand auf und holte sich an der Theke ein Bier, mit dem sie sich an das Fenster setzte. Ma’Gas’ war immer schon eine wilde Stadt gewesen, aber die geheime Strömung der Tollheit schien noch stärker zu sein als sonst. Die Sexualgeschäfte, die sonst in den Seitengassen und unter den Kais stattfanden, quollen, wie man sehen konnte, hinaus auf die großen Durchgangsstraßen. Jasmine beobachtete zwei Schlägereien innerhalb von fünfzig Metern um die Kneipe, und bei beiden blieben Tote zurück, die wegzuräumen niemand sich die Mühe machte. Die Kais waren überfüllt bis zum äußersten, waren voll gestopft mit Tieren, die Jasmine so tief im Süden noch nie gesehen hatte – Ponies, Otter, Schneeleoparden, Wongas, Bärenmenschen. Es war, als versammelten sie sich alle zu einem Großereignis.
So war es aber nicht. Es war
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