Neue Zeit und Welt
und er wusste, dass sie für alle Wesen Nächstenliebe empfand. Aus diesem Grund beschloss er, in ihrer Gegenwart seine Gefühle künftig vor ihr zu verschließen – obwohl er, wie er selbst genau wusste, ohnehin nicht die Gewohnheit hatte, seine Empfindungen anderen anzuvertrauen. Trotzdem würde er ihre Weichheit jetzt nicht auf die Probe stellen; er wollte eine Maske tragen. Aber er dachte nicht daran, seinen Hass aufzugeben, obwohl Jasmine ihn darum anflehte. Dieser Hass bedeutete ihm zuviel. Wie ein ertrinkender, untergehender Pirat sich an schweren Goldschmuck klammert, den er gegen einen hohen Preis soeben erbeutet hat, so umklammerte Ollie sein heißgeliebtes Plündergut, diese glitzernde Bösartigkeit.
Er ging mit Jasmine zum Ende des Piers, und sie ließen ihre Beine über den Rand baumeln. Ollie zog eine Bambusflöte aus dem Gürtel, die er während ihres Zuges durch den Urwald geschnitzt hatte. Er führte sie an den Mund und spielte in der Luft des frühen Abends die traurigste, fremdartigste Melodie, die Jasmine je gehört hatte. Sie traf sie tief in der Seele, und wäre sie ein Mensch gewesen, sie hätte geweint.
Es war ein Refrain von sechzehn Noten, silbern und schwermütig wie der Wind an einem einsamen Ort. Jasmines Herz schlug schneller und fand dann Ruhe.
Auf ihre Art brachte die Melancholie der klagenden Töne sie beinahe ebenso aus der Fassung wie vorher Ollies unverhüllter Sadismus. Aber sie war müde und wollte solchen Gedanken nicht nachhängen. Sie sah die Golf-Tide sich in der zunehmenden Dunkelheit zusammenbrauen, während die Musik des Jungen mit den Sternen flüsterte.
Die Rückwand der Höhle flimmerte im Licht von zwei Fischtranlampen orangerot und schwarz. Die äußerste Begrenzung war gar nicht zu sehen, sondern ließ sich nur durch das schwappende Gurgeln erahnen, das von den hohen Nischen widerhallte. Ein Ort, der Schauder erregte.
Ein Bach lief durch die Höhlenmitte, rann an einem Ende in eine zweite, größere Höhle und von dort aus direkt ins Meer. Der Flusslauf wurde gespeist von einem Dutzend Wasserläufen, die durch dunkle Öffnungen im Gestein hereinströmten, manche klein, andere groß, manche undefinierbar. Eine Flussverzweigung führte plötzlich in ein tiefes, stilles Becken, das eine der entlegenen Höhlenecken ausfüllte. Hier ankerten Boote.
Es gab buchstäblich Dutzende von Tunnels, die in die entlegenen Bereiche führten, die Hälfte davon war trocken. In der dichten Lichtlosigkeit war keiner davon sichtbar. Einer führte geschlängelt zu einer Folge von miteinander verbundenen Kammern und schließlich zu einem kleinen, gut beleuchteten Raum, wo Dutzende saßen und schrieben. Leute der Bucherei.
Die Bucherei war eine Gesellschaft militanter Schreiber, den mystischen Aspekten des geschriebenen Wortes verpflichtet, der Überlegenheit des Schreibens als Quelle der Macht, und, in neuester Zeit, dem Sturz der Königin in der Stadt ohne Namen.
Die Königin und ihre Schergen entführten seit Jahren Menschen und gebrauchten sie zu scheußlichen Experimenten. Für die Bücher – wie diese Schreiber sich selbst nannten – war das unerträglich. Menschen waren das Fundament der Schreibkunst, des Schreibens als solchem. Einem Menschen würde – so stand geschrieben – eines Tages das Ur-Wort offenbart werden – die ungeheure Macht, beschlossen in jenem Urgemenge von Buchstaben, aus dem sich alle späteren Wörter ableiteten. Es war diese gewaltige, elementare Macht, eine Funktion der ersten Schlüsselbuchstaben und ihrer magischen Beziehung zueinander, die von den Bücherleuten so inbrünstig gesucht wurde – und die sie jetzt vor den Machenschaften der Königin zu schützen versuchten.
Reihe um Reihe von Schreibern saß hier, über niedrige, lange Tische gebeugt, und schrieb Ergänzungen zu dem Großen Wörterbuch. Das GW war das Lebenswerk der Bucherei, sein Ziel nichts Geringeres als das, jedes Menschenwort zu lernen und zu definieren.
Die Schreiber studierten jedes wiederentdeckte Buch oder Journal. Jedes neuentdeckte Wort wurde vielfach auf Listen niedergeschrieben, die Definition aus dem Zusammenhang oder aus Querverweisen abgeleitet. Ältere Angehörige der Schar waren manchmal wie hypnotisiert und suchten in ihren frühesten Erinnerungen nach Hinweisen auf eine bestimmte Erklärung – irgendeine längstvergessene Bemerkung der Eltern oder ein Zeitschriftenartikel, den sie in ihrer Jugend gesehen hatten.
Jeder musste sich bei der Arbeit am GW
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