Neue Zeit und Welt
flussaufwärts der Stadt zu begeben, um nachzusehen, ob die Kanalisationspläne, vor Jahren dort zurückgelassen, noch entzifferbar waren. Vielleicht konnten sie Licht auf Joshuas rätselhaften Brief werfen. Sie ging den Pier hinauf, in die Richtung, die Ollie eingeschlagen hatte, und schaute unterwegs in jede Bar hinein.
In der vierten Kneipe an der Südseite des Hafens richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf eine große, lärmende Zuschauermenge um irgendeine Vorführung in der Mitte des Lokals. Sie zwängte sich bis zur ersten Zuschauerreihe hindurch und erstarrte. Dort im Kreis kämpfte Ollie mit einem Vampir.
Der Junge hatte einen blutigen Dolch in der Hand, sein Gesicht verriet kalte Wut. Der Vampir wankte blind umher – beide Augen von Ollies Messer ausgestochen. Eine Hand des Wesens lag, flehend gekrallt, am Boden; es schwang den blutigen Stumpf in blinden, weiten Bogen und versuchte, den Menschenteufel damit niederzuhauen. Die Zuschauer johlten, schlossen Wetten ab, brüllten Vorschläge und fauchten. Ollie blieb hinter dem im Kreis taumelnden Vampir und stieß ab und an lässig mit dem Messer zu.
Jasmine war mit zwei Schritten im Todeskreis, riss ihrem verblüfften Begleiter das Messer aus der Hand und schnitt dem Vampir rasch die Kehle durch; er starb im nächsten Augenblick. Die Zuschauer jubelten. Jasmine sah Ollie an und sagte mit eisiger, gezügelter Wut: »Ich will nie mehr erleben, dass du dich so benimmst.« Sie warf das Messer so wütend zu Boden, dass die Spitze zentimetertief im Holz stecken blieb.
Er zog das Messer heraus und sah sie an, die Augen trüb von verborgener Qual.
»Ich hasse die Vampire«, flüsterte er.
Jasmine drehte sich um und zwängte sich durch die auseinanderstrebende Menge zum Ausgang. Auf dem Hinausweg hörte sie einen der Zuschauer sagen: »Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so schnell ist.«
Auf der Straße holte Ollie sie ein. Er griff nach ihrem Arm und riss sie herum.
»Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin«, sagte er heiser. »Sie haben sich das selbst zuzuschreiben.«
»Dieser Vampir mag sich das selbst zugezogen haben«, sagte sie leise, »aber niemand hat dich zu dem gemacht, was du bist. Wir schaffen uns alle selbst, nach unserem eigenen Bild. Es ist nutzlos, weiter darüber zu reden. Ich weiß nicht, wie er dich provoziert hat, aber ich habe deine Reaktion gesehen – und bei meinen Freunden dulde ich ein derart liebloses, willkürliches Verhalten nicht.«
Sie starrten einander einen langen, gespannten Augenblick an. Schließlich sagte Ollie auf seine langsame, zurückhaltende Art: »Ich brauche deine Freundschaft nicht. Ich will sie nicht einmal, wenn sie Entschuldigungen verlangt. Aber ich brauche deine Hilfe, um Josh zu finden. Wenn du das also forderst – was du gesehen hast, tut mir leid.«
Jasmine war sich gemischter Gefühle bewusst. Sie war entsetzt von der Kaltblütigkeit, mit der Ollie den verwundeten Vampir gequält hatte, aber sie kannte auch den Ursprung seines Hasses und zuckte vor der Erinnerung zurück. Und in diesem Augenblick war er unverhüllt aufrichtig zu ihr – er brauchte ihre Unterstützung und entschuldigte sich deshalb für sein Vergehen. Sein Motiv war einfach dies, dass er seinen geliebten Bruder retten wollte, der vor langer Zeit ihn gerettet hatte. Jasmine lächelte, schüttelte den Kopf und legte den Arm um Ollies Schulter.
»Ich glaube, wir sind durch das Eis alle ein bisschen verrückt geworden.«
Ollie sagte nichts, obwohl er ihr ganz und gar nicht recht geben konnte – er fühlte sich nicht im mindesten verrückt. Er fühlte sich ruhig und klar und unzweideutig. Er hasste Vampire eben von Grund auf. Sein Hass war rein; er verwirrte ihn nicht, behinderte seine anderen Sinne nicht, rief keine inneren Konflikte hervor. Ollie hatte das Gefühl, dass sein Hass gerechtfertigt war – Vampire hatten seine Familie ermordet, ihn im Alter von zehn Jahren gefoltert und versklavt, ihm Dinge angetan, über die er und seine Base niemals zu sprechen vermochten. Vampire waren hassenswert. Sie hatten Edelsteine in seine Haut eingenäht, um zu bezeichnen, welchem Harem er angehörte. Den Rubin in der Brust trug er immer noch, als Mahnung, als sei sie nötig.
Er konnte seine Gefühle Jasmine nicht erklären und wollte es auch nicht. So war er eben. Diese Empfindung verlieh ihm Kraft, ja sie erhielt ihn überhaupt am Leben. Er empfand große Zuneigung für Jasmine – sie hatte damals mitgeholfen, ihn zu befreien,
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