Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity
dabei. Die frische Luft wird …«
Weiter kam ich nicht. Lucy unterbrach mich, indem sie halsstarrig wiederholte, dass sie auf ihrem Zimmer zu bleiben gedachte, und damit basta. Mein Angebot, mich zu ihr zu setzen und ihr vielleicht vorzulesen, wurde ebenfalls abgewiesen.
»Ich will nicht beobachtet werden!«, schrie sie mich an.
Sie war wie ein schmollendes Kind, und es schien mir am besten, sie allein zu lassen, bis sich ihre üble Laune gebessert hatte. Ich konnte schließlich auch allein spazieren gehen und frische Luft schnappen, also ließ ich sie in ihrem Zimmer zurück und ging in mein eigenes, um mir einen Hut zu holen. Als ich erneut auf den Flur trat und mich zur Treppe wandte, erwartete mich ein mächtiger Schreck.
Der rechte Teil des Korridors von der Treppe aus gesehen, von welchem mein Zimmer abging, war immer recht dunkel, weil es kein Fenster gab. Doch der linke Teil war hell, denn am hinteren Ende befand sich ein Fenster. Beide Teile waren verlassen gewesen, als ich in mein Zimmer gegangen war, um den Hut zu holen, dessen war ich vollkommen sicher. Es hatte nur einen Augenblick gedauert, und doch war ich nicht länger allein auf dem Gang.
Eine weibliche Gestalt in einem dunklen Kleid stand bewegungslos am Kopf der Treppe und blickte in meine Richtung. Weil ich im Dunkeln stand und das Licht durch das Fenster von hinten auf sie fiel, vermochte ich nichts außer ihrer Silhouette zu erkennen. Die Gestalt war genauso mysteriös wie jene, die ich in meiner ersten Nacht hier aus dem Garten ins Haus hatte schlüpfen sehen. Die wartende Frau stand so still und lautlos da, dass ich gestehe, im ersten Augenblick Panik verspürt zu haben und den albernen Impuls, mich abzuwenden und in mein Zimmer zu flüchten. Doch ich sagte mir streng, dass es nur ein Trick des Lichts war, der die Gestalt so unheimlich erscheinen ließ. Ich zwang mich, forsch auf sie zuzugehen (auch wenn ich mich insgeheim fragte, ob sie sich in Luft auflösen würde, sobald ich näher kam).
Als ich heran war, erkannte ich einigermaßen erleichtert, dass es Phoebe Roche war. Ich hatte überlegt, ob es möglicherweise die unansehnliche, zurückhaltende Frauensperson war, welche die beiden Schwestern als Kammerzofe beschäftigten, auch wenn es keinen Grund für sie gab, auf mich zu warten, wie es die Person am Kopf der Treppe offensichtlich getan hatte. Ich erinnerte mich, dass Miss Phoebe in ihrem Zimmer frühstückte und nicht vor dem späten Vormittag nach unten kam. Sie schien soeben aus ihrer vormittäglichenZurückgezogenheit hervorgekommen zu sein. Nachdem der Leichnam Brennans nicht mehr auf dem Grundstück, sondern weggeschafft worden war, hatten die Schwestern prompt ihre Trauerkleidung abgelegt. Die heutige Garderobe war, wie ich nun sehen konnte, magentafarben. Ich rechnete fest damit, dass auch Christina Roche ein magentafarbenes Kleid aus dem gleichen Stoff angelegt hatte. Ich fragte mich, ob die Schwestern ihre Garderobe am Abend vorher absprachen? »Guten Morgen, Miss Phoebe«, sagte ich, und meine Stimme schien durch den Korridor zu hallen und als Echo von der hinteren Wand zurückzukehren.
»Guten Morgen, Miss Martin.« Phoebe musterte mich auf eine Weise, die mit dem schlechten Licht zu tun haben konnte – oder daher rührte, dass sie extrem kurzsichtig war. Bis jetzt hatte ich sie noch nicht mit einer Brille gesehen. Doch ich hatte sie auch noch nicht lesen sehen, trotz der Andeutung ihrer Schwester, dass Phoebe Roche ständig »die Nase in irgendeinem Buch« hatte.
Vielleicht las sie in der Zurückgezogenheit ihres Schlafzimmers, und vielleicht war das der Grund, aus dem sie erst so spät am Vormittag nach unten kam. »Ich wollte soeben an der Tür meiner Nichte klopfen«, sagte sie. »Wissen Sie vielleicht rein zufällig, ob Lucy in ihrem Zimmer ist?«
»Das ist sie, und ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist immer noch sehr aufgebracht. Ich wollte sie zu einem Spaziergang mitnehmen, weil ich denke, dass die frische Luft ihr guttut, doch sie weigert sich. Vielleicht können Sie sie überreden?«
Ich wartete, um zu sehen, ob sie auf meinen Vorschlag einging, doch nach einem kurzen, beinahe unmerklichen Zögern schüttelte Phoebe Roche den Kopf. »Meine Nichte ist sehr halsstarrig. Ich glaube, es ist ihre einzige wirkliche Schwäche. Schon als kleines Kind konnte sie nicht mehr überredet werden, sobald sie sich erst etwas in den Kopf gesetzt hatte. Dazu noch ihre natürliche, jugendliche Impulsivität …«
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