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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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angefreundet haben – sehr zum Nutzen der deutschen Außenpolitik.
    Es muss Anfang des Jahres 1984 gewesen sein, als Genscher durch den Hof des Quai d’Orsay in eine dahinter liegende Villa geführt wurde, wo sich die wenigen Amtsräume des vom politischen und protokollarischen Rang her unbedeutenden Europaministeriums befanden. Doch der Rangunterschied störte den Außenminister und Vizekanzler aus Bonn nicht.
    »Das war nur insofern ungewöhnlich«, so Genscher, »als Dumas der einzige beigeordnete Minister war, mit dem ich je ein selbstständiges Treffen vereinbart habe.«
    Begleitet von seiner Dolmetscherin stieg der Deutsche die elegant geschwungene Treppe in den ersten Stock empor, wo das Arbeitszimmer des französischen Europaministers lag, und wurde dort freundlich, aber reserviert empfangen. Um das Eis zu brechen, zeigte Genscher auf eine Büste von Robert Schumann und sagte, es sei ja ein gutes Zeichen, wenn der Geist jenes Europäers in diesem Raum gewürdigt werde. Doch da Roland Dumas ein Mann ist, der seine Eitelkeit eher intellektuell befriedigt, denn äußerlich und schon gar nicht, indem er sich mit fremden Federn schmückt, wehrte er in der ihm eigenen leisen Art ab. Dass die Büste hier stehe, sei nicht sein Verdienst: »Ich kam bei Amtsantritt in das leere Büro und habe den Diener in den Keller geschickt, irgendetwas zur Dekoration zu holen. Er kam mit dieser Büste zurück.«
    Kaum saßen sie, sah Genscher seinen Gesprächspartner an und begann zu erzählen: Er berichtete von seiner Herkunft aus dem anderen Teil Deutschlands und was die Teilung für ihn bedeute, erklärte, dass er die Franzosen liebe, soweit er sich zurückerinnern könne, und kam bald auf seine Familie zu sprechen. Sein Vater war früh gestorben, sodass der 1927 in Reideburg bei Halle geborene Knabe unter dem Einfluss seines Großvaters mütterlicherseits, des Bauern Otto Kreime, aufwuchs. Der hatte 1890 seinen Militärdienst in Lunéville abgeleistet, im damals zum Kaiserreich gehörenden Lothringen, und war mit großer Begeisterung für die Franzosen zurückgekommen.
    Nach Sachsen-Anhalt ließ sich Otto Kreime von nun an die französische Zeitung aus Lunéville nachsenden und kaufte einen großen Radioapparat, Marke Saba, um französische Sendungen von Radio Straßburg empfangen zu können. Dumas hörte sich das alles interessiert an.
    »Es hat sich sehr schnell gezeigt«, erzählte mir Genscher, »dass eine menschliche Sympathie da war. Viel Wärme, zu der Dumas ja sehr stark fähig ist.«
    Als ich Roland Dumas nach diesem ersten Treffen mit Genscher befragte, sagte er mit viel Vorsicht, aber ohne falsche Scheu: »Ich war getränkt von Germanophobie. Es war gut, unsere Beziehung, die zwischen Hans-Dietrich und mir, in aller Offenheit zu beginnen. Das hat uns beiden erlaubt, totales Vertrauen zueinander zu entwickeln. Wenn er später etwas sagte, vertraute ich ihm. Wenn er sagte, das kann ich nicht machen, denn da gibt’s ein innenpolitisches Problem oder eines in der Koalition, dann wusste ich, es ist so. Und auch ich konnte voller Offenheit mit ihm über das reden, was in Frankreich passierte. Ich habe ihn nie überlistet, was ja in der Politik selten ist.« Roland Dumas lachte, während er das sagte.
    Das Vertrauen zwischen dem französischen und dem deutschen Außenminister war so groß, dass es Genscher sogar in einem ganz konkreten Punkt gelang, einen Wandel in der französischen Politik herbeizuführen: in der Haltung zu chemischen Waffen.
    Ende August 1988 hatte Roland Dumas den deutschen Freund in sein Landhaus in der Gironde eingeladen. Unter anderem kamen sie auf die blockierten Abrüstungsverhandlungen über Chemiewaffen in Genf zu sprechen.
    Genscher sagte zu Dumas: »Ich verstehe die französische Haltung nicht. Sie sind für Abrüstung und ein Verbot der Herstellung chemischer Waffen, wollen aber gleichzeitig das Recht haben, welche zu besitzen.«
    Roland Dumas erklärte, dass dies eine Formulierung sei, die wieder einmal auf das Konto der Beamten im Quai d’Orsay gehe; und da diese Diplomaten überzeugte kalte Krieger seien, hinkten sie in ihren Denkstrukturen der politischen Entwicklung hinterher.
    Überzeugt von Genscher, sprach Dumas mit Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand, der einen Monat später, am 29. September 1988, vor der UNO die veränderte französische Haltung verkündete: völliger Verzicht auf Produktion und Besitz von Chemiewaffen.
    Roland Dumas, der die französische Politik

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