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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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vertrat, und Hans-Dietrich Genscher, der für Deutschland sprach, haben sich gegenseitig unzählige kleine und auch größere Gefälligkeiten erwiesen, zum Beispiel dann, wenn man selbst von einer Sache nicht betroffen war, aber ohne Mühe dem anderen mit einer Stellungnahme helfen konnte.
    So hatte Hans-Dietrich Genscher in der Frage der Modernisierung der Kurzstreckenraketen Lance klar eine ablehnende Haltung bezogen: Er befürchtete, die Modernisierung werde den Abrüstungsprozess behindern.
    Aus den Reihen seines Koalitionspartners CDU tönten Volker Rühe, damals Generalsekretär der Union, und Alfred Dregger, Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, jedoch ganz anders, und der Kanzler schien eher zu deren Position zu neigen.
    Obwohl Frankreich von der NATO-Entscheidung nicht direkt betroffen war, da es militärisch nicht zum Bündnis gehörte, hätten die USA und Großbritannien gern eine positive Erklärung aus Paris gehört, zumal bekannt war, dass Frankreichs konservativer Verteidigungsminister Giraud und die französische Generalität um eine entsprechende Einstellung der Modernisierung ihrer eigenen Kurzstreckenwaffen fürchteten. Die konservative Regierung wurde zu der Zeit von Premierminister Jacques Chirac geführt und unterstützte den sozialistischen Staatspräsidenten nicht. Mitterrand bekannte sich jedoch zu der Haltung Genschers. Der Verteidigungsminister der konservativen Kohabitationsregierung in Paris hatte sich schon öffentlich für die Modernisierung ausgesprochen, doch als bei einer Pressekonferenz im Anschluss an einen deutsch-französischen Gipfel Mitterrand, neben Kohl sitzend, nach seiner Meinung gefragt wurde, lehnte der die Position des französischen Verteidigungsministers ab und erläuterte mit einem lakonischen Satz, weshalb nur seine Meinung maßgebend sei: »Frankreich spricht durch meinen Mund.«
    Genscher, der im Saal anwesend gewesen war, sagte mir später fröhlich: »Das werde ich nie vergessen!« Schließlich war auch die Bonner Koalition in dieser Frage gespalten.
    Vor dem Nato-Gipfel im Mai 1989 stattete der französische Präsident, begleitet von Roland Dumas, US-Präsident George Bush in dessen Ferienhaus in Kennebunkport in Maine eine Stippvisite ab. Dabei sagte Bush: »In Europa müssen wir jetzt nur noch Hans-Dietrich überzeugen.«
    Als in dieser Nacht Hans-Dietrich Genscher gegen halb eins mit seiner Frau in sein Haus in Wachtberg bei Bonn kam, klingelte das Telefon in der Diele. Er hob ab. Am anderen Ende war Roland Dumas, der über den Großen Teich hinweg anrief und vom eben beendeten Gespräch mit Bush berichtete. Bush, so Dumas, habe gefragt, weshalb Genscher innenpolitisch so mächtig sei, dass es ihm gelinge, die deutsche Haltung in der Koalition zu blockieren. Da habe Mitterrand dem amerikanischen Präsidenten erklärt, wie die Koalition funktioniere und welche Macht Genscher besitze. So wurde auf westdeutsches Drängen hin beim Nato-Gipfel im Mai 1989 keine Entscheidung über die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckensysteme gefällt.
    Die Geschichte hat Genscher in dieser Frage recht gegeben, denn ohne seine Intervention hätte es ein falsches politisches Signal an die Reformer im Osten gegeben.
    Die Reformer im Osten hat Genscher eher ernst genommen als viele andere Politiker auf der Welt.
    Im Westen wurden Glasnost und Perestroika von vielen lange als übles Täuschungsmanöver der Sowjets interpretiert. Im Oktober 1986 hatte Bundeskanzler Helmut Kohl, vielleicht mit Blick auf die Bundestagswahl im Januar 1987, in einem Interview dem US-Magazin Newsweek gesagt: Gorbatschow »ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte in Public Relations.« Daraufhin verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Bonn und Moskau dramatisch.
    Ganz anders aber dachte Genscher. Er hat am 1. Februar 1987 in einer Rede in Davos gesagt: »Nehmen wir Gorbatschow beim Wort.«
    Dieser Satz hat ihm viel Kritik in Deutschland, in den USA und in Großbritannien eingetragen. Damals entstand der negativ gemeinte Begriff des »Genscherismus«.
    1999 unterhielt ich mich in einem dreistündigen Interview für den Dokumentarsender Phoenix mit Genscher auch über diesen Satz zu Gorbatschow, der wohl zusammen mit seinem abgerissenen Satz auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag Ende September 1989 der wichtigste seiner Laufbahn

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