Neugier und Übermut (German Edition)
war. »Ich hätte eigentlich die Rede schon im Dezember 1986 halten können«, sagte er mir. »Nur hatten wir im Januar darauf eine Bundestagswahl. Ich wusste, wenn ich das in einem Vorwahlkampf sage, wird eine objektive Beurteilung dieser Rede nicht mehr möglich sein. Ich wartete also. Ende Januar war die Wahl, und am 1. Februar hielt ich diese Rede in Davos: Gorbatschow ernst nehmen, beim Wort nehmen, eine historische Chance nicht versäumen.«
»Haben Sie den Begriff ›Genscherismus‹ als negativ empfunden?«, fragte ich ihn.
»Er wurde ja sehr bald eher ein Gütesiegel. Den anfänglichen kritischen Unterton habe ich mit Gelassenheit ertragen. Natürlich war das Wort zunächst negativ gemeint, erst hinterher wurde es ein Qualitätsmerkmal.«
»Naja, Sie wurden in der Washington Post als KP-Agent bezeichnet.«
»So weit sind sie zwar nicht gegangen, aber als einen Illusionisten haben sie mich schon bezeichnet. Immerhin hat mir die Entwicklung recht gegeben.«
»Aber damals hatten Sie ja den Ruf, sich alles schönreden zu wollen.«
»Ich glaube an die Dynamik der Politik und nicht an die Statik. Und ich war davon überzeugt, dass es uns gelingen würde, unsere Werte zum Gegenstand der Ost-West-Politik zu machen und sie dort auch zur Geltung zu bringen. Das musste früher oder später zu einer Veränderung im Ostblock führen, es bedurfte nur noch des Mannes, der das tat – oder der Männer, denn man darf den gestaltenden Einfluss von Schewardnadse gerade hier nicht unterschätzen. Im übrigen – neue Entwicklungen muss man auch herbeireden, wenn man alte Feindbilder und Denkweisen überwinden will.«
So wie Genscher mit dem französischen Außenminister Roland Dumas ein persönliches Vertrauensverhältnis aufbauen konnte, so gelang es ihm auch mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse, der – wie Genscher – zuvor Innenminister gewesen war. Bei dem legendären Besuch von »Gorbi« in Deutschland im Juni 1989 war Gorbatschow abends mit seiner Frau bei Helmut und Hannelore Kohl eingeladen. Schewardnadse war ohne Frau nach Bonn gereist und Hans- Dietrich Genscher und seine Frau hatten ihn zu sich nach Hause nach Wachtberg eingeladen. Da geschah eine entsetzliche Panne.
»Meine Frau und ich warteten im Garten auf ihn«, erzählte mir Genscher, »das Abendessen war im Casino des Auswärtigen Amtes vorbereitet worden. Der Koch hatte große Schüsseln bei sich und wartete ebenfalls auf Schewardnadse, der sich verspätete. Plötzlich kam er kreidebleich zu uns in den Garten und sagte: ›Der Fisch ist weg.‹
Ich sagte: ›Welcher Fisch?‹
Er antwortete: ›Den Sie essen wollten. Ich hatte ihn in dieser Terrine, aber nun ist er nicht mehr drin.‹
Wahrscheinlich hatte er die falsche gegriffen.
Jedenfalls sagte er: ›Ich fahre jetzt sofort zurück nach Bonn und hole den Fisch.‹
Er fuhr los, kam aber nach zwanzig Minuten zurück, konnte also gar nicht bis zum Auswärtigen Amt gefahren sein.
Ich fragte: ›Wo ist denn nun der Fisch?‹
Er erwiderte: ›Ich kam nicht durch, die Straßen sind gesperrt.‹
›Warum?‹, wollte ich wissen.
Er sagte: ›Weil Schewardnadse kommt.‹
Zu mir! Jetzt standen wir also ohne den Fisch da. Wir haben dann mit dem Abendessen begonnen, was blieb uns anderes übrig? Es gab eine Suppe und dann einen Spargelsalat. Danach stand ich auf und verriet die Wahrheit: ›Der Fisch ist weg, sagt der Koch. Also haben wir kein Hauptgericht.‹ Aber es war ein wunderschöner Sommerabend, weshalb ich Schewardnadse vorschlug: ›Es gibt hier ein sehr schönes Restaurant namens ›Maternus‹ mit einer legendären Wirtin, die einen schönen Garten hat, in dem man essen kann. Wir rufen jetzt dort an, ob für uns Plätze frei sind. Wenn Sie einverstanden sind, gehen wir in dieses Restaurant zum Essen.’«
Mit der legendären Wirtin meinte Genscher Ria Maternus. Für alle, die sie kannten, aber nur Ria.
»Schewardnadse war einverstanden, und wir fuhren dorthin«, erzählte Genscher weiter. »Es war ein Tisch für uns in dem Garten vorbereitet. Es ist ein kleines Gärtchen mit höchstens zehn Tischen. In der Ecke sah ich eine Herrengesellschaft sitzen, darunter der frühere Staatssekretär Schreckenberger aus dem Kanzleramt, der auch die Aufsicht über die Geheimdienste gehabt hatte. Bei ihm saßen der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der Chef des Militärischen Abschirmdienstes, der Präsident des
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