Neugier und Übermut (German Edition)
im Westen verankert. Mitterrand traute Genscher da mehr als Kohl. Mitterrand misstraute Kohl besonders deswegen, weil er sich weigerte, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen.«
In einigen wesentlichen Bereichen haben die Grundsatzgespräche zwischen Dumas und Genscher zu Veränderungen in der französischen Haltung zu Deutschland geführt. Besonders was die Ostpolitik betrifft.
»Schon 1985/86 hat Hans-Dietrich Genscher mich auf das andere Europa aufmerksam gemacht – man müsse dem Osten helfen, sich zu emanzipieren. Er war dort viel mehr unterwegs als ich. Was mich erstaunt hat, waren seine häufigen Reisen nach Prag, nach Ungarn, usw. Eines Tages habe ich ihn darauf angesprochen, und da sagte er mir, ich müsse auch nach Prag fahren und dort den und jenen treffen, besonders aber den alten Kardinal František Tomášek! Er hat mich auf das östliche Europa hingewiesen und mich ständig darüber auf dem laufenden gehalten, was in den Ländern des Ostblocks vor sich ging. Und besonders kümmerte er sich natürlich um Ostdeutschland. Lange vor 1989 hat er mir gesagt: ›Weißt du, Ostdeutschland gibt es nicht mehr lange.‹«
Das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Außenministern hat dazu beigetragen, dass der Einheitsprozess leichter durchgeführt werden konnte, aber auch, dass es im Konflikt um das zerfallende Jugoslawien nicht zu einem großen Zerwürfnis zwischen Deutschland und Frankreich kam. Später gab es mit Hubert Védrine und Joschka Fischer noch einmal ein Paar, das sich der Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen und ihrer Auswirkungen auf Europa bewusst war.
Doch kurz bevor wir uns nach dem Essen im »Chez Lipp« voneinander verabschiedeten, sagte mir Dumas, er habe kürzlich bei einem Dîner neben dem neuen deutschen Außenminister Guido Westerwelle gesessen. Da habe er ihn gefragt:
»Wie häufig waren Sie denn schon in Paris?«
Und Westerwelle habe geantwortet: »Dreimal.«
Dumas verdrehte die Augen, umarmte meine Frau Julia und stieg mit seiner jungen russischen Freundin in das wartende Auto.
Hans-Dietrich Genscher und
der fehlende Fisch
Seine besondere Begabung als Erzähler hat ihm sicher geholfen, ein großer Außenminister zu werden. Als ich Hans-Dietrich Genscher nach seiner Herzklappenoperation im Mai 2012 wieder einmal traf, war er munter wie eh und je. Auf seine »minimal- invasive« Operation ging er nur mit wenigen Worten ein. Umso großartiger schilderte er aber den Operateur, der diese Art der Operation erfunden hatte. Den hatte das Krankenhaus in Siegburg im Alter von 65 in Pension geschickt. Jetzt operierte der Professor »zehn Tage in der Woche« an der Universitätsklinik in Bonn, in Brasilien, in den USA oder Japan. Vor fünf, sechs Jahren muss es gewesen sein, da wurde der Arzt zu einer 93-jährigen Milliardärin nach Los Angeles gerufen. Sie benötigte dringend eine neue Herzklappe. In ihrem Alter war nur die schonende Operationsmethode von Genschers Arzt denkbar.
Der Arzt fliegt also nach Los Angeles und besucht die alte Dame. Er betritt den Raum, in dem sich vier Personen befinden. Die alte Milliardärin, der Gouverneur von Kalifornien, Arnold Schwarzenegger, der demokratische Präsidentschaftsanwärter Barack Obama und Hillary Clinton.
»Wissen Sie, warum die Politiker bei der Milliardärin saßen?«, fragte mich Genscher mit seinem verschmitzten Gesichtsausdruck.
»Keine Ahnung!« Ich dachte, jetzt erzählt Genscher wieder einen seiner berühmten Witze. Von wegen!
»Ihr verstorbener Mann war der größte Spender für die Demokratische Partei. Und Schwarzenegger wird auch was abbekommen haben.«
Obama, Clinton, Schwarzenegger hatten also Interesse daran, dass die Milliardärin noch lange lebte. Sie flog dann mit ihrer eigenen Boeing nach Deutschland, bekam ihre neue Herzklappe »minimal-invasiv« eingepflanzt, und wenn sie nicht gestorben ist, wird sie heute noch spenden.
Dann kamen wir auf Roland Dumas zu sprechen. Ein Jahr zuvor hatte Genscher mich angerufen und sich nach einem kleinen, freundlichen Hotel in Paris erkundigt. Dumas hatte Genschers Enkelkind mitsamt den Großeltern nach Paris eingeladen. Ich erzählte von dem Abend im »Lipp« und der dreißigjährigen Russin. Genscher schmunzelte. So sei er eben, sein Freund Roland. Der war ja auch als Außenminister auf Genschers Einladung hin mit seiner Maîtresse nach Bayreuth zur Premiere auf dem grünen Hügel angereist.
Es ist Genschers Gespür zu verdanken, dass die beiden sich schnell
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