Neugier und Übermut (German Edition)
anderen stellte ich fest, dass Genscher und Dumas ihre Positionen in allen Einzelheiten absprachen, um eine gemeinsame Linie vertreten zu können und so Bundeskanzler Kohl unter Druck zu setzen.
Roland Dumas und ich haben häufig über seine auch heute noch andauernde freundschaftliche Beziehung zu Genscher gesprochen und über das gespannte Verhältnis zu Helmut Kohl.
»Dazu ein Beispiel«, sagte Dumas. »Wenn Kohl nach Paris kam oder Mitterrand nach Bonn flog, haben sich beide unter vier Augen zum Essen getroffen. Eines Tages habe ich zu Mitterrand gesagt, weshalb treffen Sie sich mit Kohl allein und erzählen mir hinterher alles. Das ist doch verlorene Zeit. Weshalb nehmen Sie mich nicht mit zum Essen? Gute Idee, sagte Mitterrand. Ich werde es mit Kohl besprechen. Er fragte Kohl, aber der antwortete: Nein, nein! Warum?, fragte Mitterrand. Dumas ist mein Außenminister. Ja, so Kohl, aber denken Sie doch mal nach. Dann muss ich ja auch Genscher dazu einladen. Also, das geht nicht.«
Aber auch Hans-Dietrich Genscher war gewitzt genug, um wachsam zu sein, wenn er Gefahr für seinen Freund Roland Dumas witterte.
1986 erhielt das konservative Lager in Frankreich die Mehrheit bei den Wahlen zur Nationalversammlung, und der sozialistische Staatspräsident François Mitterrand kürte notgedrungen seinen politischen Gegner Jacques Chirac, Chef der Gaullisten, zum Premierminister. Kurz nach seiner Ernennung zum französischen Regierungschef reiste Chirac zum Antrittsbesuch nach Bonn. Nachdem er mit dem Bundeskanzler gesprochen hatte, folgte ein Termin mit dem Außenminister. Da aber ein Premierminister protokollarisch über einem Außenminister steht, auch wenn der zusätzlich noch Vizekanzler sein sollte, fuhr Chirac nicht in das Auswärtige Amt, sondern Genscher zu ihm ins Palais Schaumburg.
Chirac bot seinen ganzen Charme auf, für den er bekannt ist, um Genscher einzuwickeln und schlug ihm vor, gemeinsam mit dem Kanzler auf seine Einladung hin ein Wochenende in einem schönen Schloss an der Loire zu verbringen. Er werde seinen Außenminister mitbringen, und dann könnten sie zu viert die Weltlage besprechen und sich persönlich näherkommen.
Als das Gespräch beendet war, stellte der seinen Dienstherrn Genscher begleitende Diplomat und persönliche Referent Wolfgang Ischinger begeistert die Frage:
»Wann fahren wir denn?«
Genscher aber wiegelte ab: »Wissen Sie, darüber muss ich erst einmal mit Dumas telefonieren.«
Sie fuhren nie. Denn Dumas hatte sofort den Pferdefuß dieser Einladung entdeckt: Wenn Premierminister Chirac einlud, war Staatspräsident Mitterrand von diesem Wochenende ausgeschlossen. Und das galt es zu verhindern.
Die Beziehung zwischen Roland Dumas, der jetzt als Abgeordneter in der Nationalversammlung dem Auswärtigen Ausschuss vorsaß, und Hans-Dietrich Genscher riss auch in dieser Zeit nicht ab. Dumas flog häufig nach Bonn, wo er sich mit Genscher in dessen Privathaus zum Abendessen traf. Wenn Genscher jedoch nach Paris kam, verabredete er sich zum Frühstück oder Abendessen mit Dumas im Palais Beauharnais, der Residenz des deutschen Botschafters.
»Das war sehr nützlich«, erzählte mir Dumas, »weil Genscher nie sicher sein konnte, ob seine Botschaften bis zu Mitterrand gelangten. Durch mich war er sicher. Wichtig war das in der Ostpolitik, denn wir beide waren der Meinung, man müsse die Abrüstung in Europa vorantreiben. Immer wenn ich Genscher traf, sagte er mir, könntest du Mitterrand dies oder jenes sagen, damit er es Kohl steckt. Und Mitterrand hat mitgespielt und Kohl zu vielen Dingen bewegt.«
Mitterrand hat Genscher offenbar mehr vertraut als Bundeskanzler Kohl.
»Nach der Zehn-Punkte-Rede von Kohl vor dem Bundestag«, so Dumas, »war Mitterrand sauer und sagte mir: Das hätte dir dein Freund Genscher doch sagen können. Schließlich sind wir Alliierte, brüderlich verbündet. Wir reden doch über alles!«
Also rufe ich Genscher an, und der antwortet, du kannst Mitterrand sagen, auch ich wusste nichts. Auch ich habe die Rede erst gehört, als Kohl sie hielt. Kohl hatte nur kurz vorher die Amerikaner unterrichtet.«
»Hat Mitterrand Kohl misstraut?«
»Ja und nein. Mitterrand hielt Kohl für einen überzeugten Europäer. Aber Kohl richtete sich zu sehr nach den Wählern. Eines Tages hat Mitterrand mich sogar gebeten, Genscher kommen zu lassen, damit er die Lage Deutschlands nach der Einigung erkläre. Genscher kam und konnte Mitterrand beruhigen, Deutschland bleibe
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