Neugier und Übermut (German Edition)
Verbindungen zu seiner Heimat nie hatte abbrechen lassen, konnte sich von der Lage ein passenderes Bild machen.
Und Genscher hielt auch dran fest, Gorbatschow »beim Wort« zu nehmen. Denn es würde, so vermutete Genscher, »zu einer immer stärkeren Ost-West-Annäherung kommen«.
Als wir uns im großen Arbeits- und Bibliothekszimmer in seinem Haus in Wachtberg darüber unterhielten, erinnerte er mich daran, dass er auch Konsequenzen ziehe: »Die Frage war nun, was bedeutet das für die West-Bindung der Bundesrepu- blik? Kommen wir in eine Lage, in der die Konturen unklar werden? Deshalb fand ich, dass weitere Schritte zur europäischen Vereinigung notwendig seien. Wir waren ohnehin entschlossen, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen. Nach meiner Überzeugung wäre es absurd gewesen, sich einen gemeinsamen Binnenmarkt mit verschiedenen Währungen vorzustellen, mit so vielen Währungen wie es Staaten gab – mit Ausnahme von Luxemburg. Deshalb trat ich für die europäische Währungsunion ein. Je mehr sich Ost und West annäherten, desto dringlicher erschien mir ein solcher Schritt. Er war aber nicht ganz einfach und sehr umstritten, auch in Deutschland.«
Obwohl als Außenminister nicht zuständig, legte Genscher Anfang 1988 eine Denkschrift zur Währungsunion vor. Er stellte sich eine unabhängige Europäische Zentralbank nach dem Muster der Bundesbank in Frankfurt vor und eine Stabilitätspolitik, wie sie dem deutschen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz entsprach. Beim Europäischen Gipfel in Hannover 1988, die Bundesrepublik hatte im ersten Halbjahr den EU-Vorsitz, wurde daraufhin ein Gremium einberufen, zu dem auch Bundesbank- Präsident Karl-Otto Pöhl gehörte, um die Frage der Währungsunion zu prüfen.
Auch deshalb machte Genscher mir gegenüber mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass man der Legende entgegentreten müsse, »Die Währungsunion ist sozusagen erst auf die Tagesordnung gekommen, als die deutsche Wiedervereinigung bevorstand. Sie ist also der Preis für die deutsche Vereinigung.«
»Na ja«, wandte ich ein, »1988 ist zwar beschlossen worden, mal darüber zu reden, aber Deutschland hat doch gebremst; zum Beispiel hat der Bundeskanzler immer gesagt: ›Wir wollen darüber nicht vor Dezember 1990 entscheiden.‹«
»Sie gehen jetzt in der Entwicklung weiter«, antwortete Genscher. »1988 wurde ein erster Schritt getan, der Prozess in Gang gesetzt. Danach wurde ein Bericht vorgelegt, und für Dezember 1989 war ein Europäischer Rat in Straßburg vorgesehen. Man ist sich in den Gesprächen einig gewesen, dass ein Jahr später, also 1990, auf dem Europäischen Rat, der dann in Rom tagen würde, eine Ministerkonferenz eingesetzt werden sollte. Aber Mitterrand wollte natürlich, dass auch Frankreich seinen Anteil an der Herbeiführung der Währungsunion hat. Deshalb bestand er darauf, dass schon im Dezember 1989 beschlossen wird: 1990 setzen wir diese Ministervorlage um. Bei der CDU/ CSU bestand freilich die Befürchtung, es könne die Bundestagswahl 1990 negativ beeinflussen, wenn man das ein Jahr vor der Bundestagswahl beschließt.«
So kam es zu einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand. Der französische Staatspräsident beharrte auf einem Konferenzbeginn zur Währungsunion im Jahr 1990, der deutsche Bundeskanzler wollte dies partout erst 1991. Mitterrand setzte sich durch, denn Anfang 1990 entzweite der Streit um die Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze durch den deutschen Bundeskanzler Kohl und Mitterrand. Erst als diese Frage in die Zwei-plus-Vier-Gespräche delegiert worden war, gab Mitterrand Frieden. Und auch Kohl lenkte ein und einigte sich mit Mitterrand darauf, dass der Europäische Gipfel zum Währungsvertrag erst nach der Bundestagswahl, aber noch im Jahr 1990, stattfinden solle. Wahltermin war der 2. Dezember. Und am 15. Dezember begann in Rom der EU-Sondergipfel zur Währungsunion.
Besonders in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung war es für mich als ARD-Korrespondent in Paris wichtig, so viel wie möglich über die politische Entwicklung zu erfahren, schließlich war Frankreich eine der vier Siegermächte. Und in Paris hießen die Zwei-plus-Vier-Gespräche auch Vier-plus-Zwei-Gespräche, um deutlich zu machen, dass die vier Mächte ein größeres Gewicht haben. Genscher und Dumas stritten sich häufig darüber. Und so wie ich im Umfeld von Roland Dumas meinen »Agenten« hatte, der mich auf dem laufenden hielt, so hatte ich auch
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