Neugier und Übermut (German Edition)
ihm.
Um »Freiheit« geht es gerade einmal auf vier Seiten in seinem Buch »In the Belly of the Beast«. Mehr nicht. Obwohl es doch sein Thema in vielen Variationen ist. Ich hatte gelesen, dass er gerade vor Gericht ausgesagt hatte, das Leben in der Zelle habe ihn unfähig zum Leben in der Freiheit gemacht.
Ich fragte Abbott im Gefängnis in Queens: »Sie haben hier viel Zeit zum Nachdenken. Sie können sich viel ausmalen. Haben Sie einen besonderen Traum?«
Er schaute mich an, ohne eine Miene zu verziehen.
»Freisein ist mein Traum«, sagte er. »Weil was-auch-immer man in einer Zelle denkt, frei sein heißt. Hier in meinem Buch steht alles über Qualen und Leid, aber nicht über meine Ängste. Das Buch schildert die Ketten, die mich daran hindern, frei zu sein. Ich hatte ja nie die Möglichkeit dazu. Man kann sich nie frei machen von den Umständen, unter denen man in solch einer Zelle lebt. Man kann sich Freiheit nicht einfach im Kopf vorstellen. Es geht einfach nicht. Man muss frei sein. Und ich bin in meinem ganzen Leben nicht frei gewesen. Und doch will ich frei sein, denn ich kann schreiben und denken, und ich weiß auch, worüber ich schreiben will. Aber über Freiheit zu schreiben, heißt nicht, frei zu sein.«
»Ihr Traum heißt also Freiheit?«, frage ich ihn.
»Freiheit, darum geht es doch immer. Ich will frei sein von Gewalt, die meinem Verstand, meinem Fleisch, meinem Geist angetan wird.«
Abbott wurde zu einer Gefängnisstrafe von 15 Jahren bis lebenslänglich verurteilt.
Ein Jahr später rief er mich aus dem Gefängnis noch einmal an. Ob ich ihm Geld schicken könne? Nein, sagte ich, das dürfe ich nicht. Und dann klagte er wieder über die Unfreiheit. Er werde im Gefängnis sterben. Er werde sich wieder melden. Aber das tat er nicht.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Hätte ich mich um ihn kümmern müssen? Nein, das wäre eher die Aufgabe von Norman Mailer. Der hat später öffentlich bereut, sich für Abbott eingesetzt zu haben.
1988 wurde in Australien das Leben Abbotts in dem Film »Ghosts … of the Civil Dead« erzählt.
Kurz nach seinem 58. Geburtstag, am 10. Februar 2002, hat sich Jack Henry Abbott im Gefängnis erhängt. Er wusste, dass es vorbei war. Er hatte verloren, als bei einer Gefängnisschlägerei ein anderer gewann. Er wusste: Entweder du hältst stand, du übst Gewalt aus, oder du erleidest Gewalt, das bedeutet den Tod. Die Schlinge knüpfte er aus Bettlaken.
Sieben Jahre nach dem Tod des Mörders und Autors Jack Henry Abbott fand 2009 in der renommierten New Yorker Kulturinstitution für experimentelle Kunst »The Kitchen« die Uraufführung eines einstündigen Werkes des modernen Komponisten Elliot Sharp mit dem Titel »Binibon« statt.
Als ich Jack Henry Abbott bei unserer fingierten Lesung im Gefängnis gegenübergesessen hatte, stellte ich ihm eine letzte Frage:
»Nun sitzen Sie wieder im Gefängnis. Wie sieht denn das Bild aus, das Sie von sich selbst haben?«
»Ich glaube, mich gibt es nicht. Von mir ist gar nichts übrig geblieben.«
Dann bat ich ihn um eine Widmung in seinem Buch. Er nahm seinen Füller und schrieb »For Uli, Jack Abbott, October 19, 1981«. Und das steht in blauer Tinte unter den gedruckten Namen einiger Massenmörder, denen Abbott sein Buch ganz offiziell gewidmet hat.
Von mir ist nichts übrig geblieben? Abbotts Satz ist mir ab und zu durch den Kopf gegangen. Er steht für die Unmöglichkeit, mittels Vernunft zu lernen, Gefühle zu beherrschen, die durch ein Leben in Grausamkeit erlernt wurden. Es heißt eben: Gewalt oder Tod. Für Vernunft ist dazwischen kein Platz.
Von mir ist gar nichts übrig geblieben?
Ach, ist es wirklich so? Der amerikanische Strafvollzug hat einen Mörder produziert, der sich philosophisch gab, über den unmenschlichen Vollzug klagte, aber selber unmenschlich handelte. Der Autor Abbott hat der Öffentlichkeit geschildert, was der Mörder Abbott im Selbstversuch aus den amerikanischen Gefängnissen zu berichten hatte. Wenn sie es wissen will.
Ist gar nichts von ihm übrig geblieben?
Die Faszination von Kunst hat Jack Henry Abbott in die Nachwelt gerettet. Er war ein Mann, der alles daran legte, die Vernunft zu finden. Aber die Gewalt war stärker. Und der Tod.
Es ist mehr von Jack Henry Abbott übrig geblieben als die Veredlung seiner Schreckenstat in »Binibon« in ein Werk elektronischer Musik.
Sein Buch ist eine Mahnung an die zivilisierte Welt.
Die standhafte Frau in der UNO
Als ich Abitur machte,
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