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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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erledigen, was in anderen Botschaften unter Dutzenden von Diplomaten aufgeteilt wird.
    Wollte sie alles wissen und beeinflussen, musste sie überall präsent sein. Giovanellas Stimme wog schließlich bei der Abstimmung in den Vereinten Nationen genau so schwer wie die der US-Chefdelegierten.
    In der Generalversammlung beschämte die junge Frau all ihre hartgesottenen Kollegen, als sie vor der Diskussion über die US- Invasion in Grenada eine Gedenkminute für den ermordeten Sozialisten Maurice Bishop durchsetzte. Peinlich berührt stand da manch ein UN-Delegierter stumm auf, der doch jetzt lieber die Ost-West-Propagandaschlacht führen wollte.
    Giovanella ist in erster Linie Mensch – und um Mensch zu sein, ist sie in die Politik gegangen.
    Als sie geboren wurde, lebte ihr von den Seychellen stammender Vater als Landarbeiter in Ost-Afrika, wo sie die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte. Zu Hause sprach man Kreolisch, auf der Straße Suaheli, in der Schule Englisch.
    Ach – die Schule! Mit sieben wurde Giovanella politisiert, wie sie mir erzählte, weil eine englische Privatschule sie nicht aufnehmen wollte – ihre Haut sei zu dunkel. Als Folge entwickelte sie Stolz auf ihre Identität. Dabei könnte sie, so rothaarig und weißhäutig wie sie ist, als Schottin durchgehen. Stipendien ermöglichten ihr eine Ausbildung in Kenia, dann in Tansania, schließlich in den USA. Zurück auf den Seychellen, arbeitete sie als Lehrerin, engagierte sich politisch für die Unabhängigkeit der Kolonie von der Britischen Krone, ging ins Exil, und erst als 1977 der Sozialist Albert René durch einen unblutigen Putsch die Macht in dem winzigen Staat mit nur 65 000 Einwohnern ergriff, wurde Giovanella Gonthier wieder in Gnaden aufgenommen. Inzwischen hatte sie aber im amerikanischen Exil einen jungen amerikanischen Rechtsanwalt geheiratet, lebte mit ihm in Chicago und wollte gar nicht so gern zurückkehren.
    Da bot Präsident Albert René ihr an, die Seychellen bei den UN zu vertreten. Und da sie ihr Land so gut repräsentierte, wurde sie zusätzlich noch als Botschafterin der Seychellen am Weißen Haus in Washington akkreditiert.
    Als ich sie eines Abends in New York zum Dinner ausführte, erzählte sie mir mit mädchenhaftem Gekicher die Szene von ihrem ersten Besuch im Weißen Haus. »Mein Mann hat mich begleitet, und als ich Präsident Ronald Reagan mein Beglau- bigungsschreiben überreichte, konnte er sich nicht vorstellen, dass so ein junges Ding wie ich Botschafterin sein soll. Also hat er meinem amerikanischen Mann zu seiner Ernennung als Botschafter der Seychellen gratuliert. – Was war ihm das peinlich, als ich ihn auf den Irrtum hinwies!«
    Paradox: Giovanella denkt links, seit sie in den USA studiert hatte, und deshalb wurde sie von der amerikanischen UN-Delegation regelrecht gehasst. Voller Zorn sagte mir Ken Adelman, UN-Delegierter der USA, diese Person schaffe es allein mit ihrem Charme, mehr Unterstützung im Sicherheitsrat zu erhalten als die USA.
    Aber sie war auch auf große Solidarität angewiesen. Denn aus dem Grenada-Konflikt hat manch einer ihrer Meinung nach falsche Konsequenzen gezogen.
    Es hätte ihren Kopf kosten können, wenn geklappt hätte, worum der im Londoner Exil lebende abgesetzte Seychellen-Präsident James Manchem gebeten hatte. Er forderte nach dem Grenada-Abenteuer in einem Brief an den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, ihm analog dem Antillen-Coup mit den US-Marines wieder den Zugang zur Macht in seinem Inselstaat zu ebnen und den amtierenden »linken« Präsidenten Albert René zu stürzen.
    In den Wandelgängen der Vereinten Nationen wurde Giovanella gefürchtet, weil sie sich hartnäckig durchsetzte – aber immer für die Menschen argumentierte.
    Dagegen war mit Taktik schlecht anzukommen. Denn sie nahm kein Blatt vor den Mund: Nach der jährlichen Rede des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher ging sie auf ihn zu, beglückwünschte ihn zu einer Passage über Umweltverschmutzung, fügte aber hinzu, sie fürchte sich auch vor der militärischen Verschmutzung etwa des Indischen Ozeans – in dem die Seychellen liegen.
    Den französischen Präsidenten François Mitterrand, der die Regierung der Seychellen unterstützte, hat sie dagegen auf beide Wangen geküsst mit den Worten »wir alle sind Brüder und Schwestern«. Und wer François Mitterrands Neigungen kannte, verstand, dass er später noch von diesem Erlebnis als dem »einzigen Moment wirklichen Lebens«

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