Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
Vom Netzwerk:
dachte ich daran Diplomat zu werden. Das war, als sich die kleinen Sehnsüchte nach Lokomotivführer (als es noch riesige Dampfloks gab), aber auch Kameramann (Verkleidung an Fasching) verflüchtigt hatten. Was ein Diplomat war, glaubte ich zu wissen, das erlebte ich täglich bei meinem Vater. Der Beruf schien mir abwechslungsreich, man traf interessante Menschen, lebte in fremden Ländern – wie wir etwa in Paris – und schien auch sonst ein angenehmes Leben zu haben. Meine Mutter war mit mir zum Arbeitsamt gegangen, Abteilung Berufsberatung. Da hatte der Beamte gefragt, was ich werden wollte. Diplomat. Daraufhin gab er mir eine Broschüre, in der stand, wie man Diplomat wird, nämlich indem man Rechtswissenschaften studiert. Aha. Keine weiteren Fragen, kein Versuch festzustellen, ob ich überhaupt geeignet wäre. Schwachsinnige Berufsberatung, sage ich heute noch.
    Also habe ich angefangen, Jura zu studieren. Aber ich bin immer noch überzeugt, dass es gut war, dass ich doch kein Diplomat geworden bin. Wenn ich mir ansehe, wie hilflos ausgewachsene Diplomaten der Politik ausgeliefert sein können, etwa wie ein erwachsener Mann, ein für seinen Intellekt und seine Kenntnisse der Weltpolitik gerühmter UNO-Botschafter sich dem Diktat eines hilflosen Außenministers Guido Wes- terwelle unterwerfen und etwa bei der Libyen-Abstimmung 2011 im Sicherheitsrat gegen seine eigene Überzeugung und gegen die Nato-Alliierten mit Nein stimmen muss, dann bin ich wieder froh, während meines Studiums in den USA gelernt zu haben, was Freiheit bedeutet, und dass Freiheit des Denkens und Handelns in einer Beamtenlaufbahn meiner Ansicht nach mir nicht vorgesehen ist.
    Aber es gibt Ausnahmen.
    Und einer solchen Ausnahme begegnete ich Anfang der achtziger Jahre, als ich das ARD-Fernsehstudio in New York leitete, und es handelte sich zudem auch noch um eine sehr attraktive Ausnahme: Giovanella Gonthier war einunddreißig und UNOBotschafterin der Seychellen.
    Unsere erste Verabredung ließ sie leider platzen. Sie sei krank.
    Wenn Politiker sich vor etwas drücken wollen, dann werden sie »krank«, doch Giovanella Gonthier lag nicht darnieder, weil Politik sie krank gemacht hatte, sondern war wirklich krank mit Fieber und allem, was dazu gehört.
    Ihre Exzellenz Miss Gonthier, wie sie auf der weltpolitischen Bühne genannt wurde, hatte das Grenada-Abenteuer der Amerikaner nicht gesund überstanden.
    Zur Erinnerung: Der kleine Inselstaat Grenada in der Karibik wurde um 1980 von Premierminister Maurice Bishop regiert. Er setzte auf ein kostenloses Gesundheitssystem, veranlasste den Bau neuer Schulen und sorgte für eine gesunde Finanzpolitik, wofür die Weltbank ihn lobte. Aber der Kalte Krieg war noch in vollem Gange und ließ selbst in der Karibik die politischen Temperaturen einfrieren. Denn Bishop wurde auch von Kuba und der Sowjetunion unterstützt. Das wurde ihm zum Verhängnis.
    In den USA regierte Präsident Ronald Reagan. Und schon arbeitete die CIA Pläne zum Sturz der als marxistisch eingestuften Regierung von Grenada aus. Wie später im Fall Irak log das USVerteidigungsministerium das Blaue vom Himmel. Auf Grena- da solle eine sowjetische U-Boot-Basis gebaut werden, ließ es verlauten. Dummerweise machte sich ein Korrespondent der Washington Post auf und berichtete, das Wasser um Grenada herum sei dafür viel zu flach.
    Jeder wusste, dass ganz Grenada mit seinen 90 000 Bewohnern noch nicht einmal ein Zehntel so groß war wie der New Yorker Stadtteil Queens! Trotzdem behauptete das US-Verteidigungsministerium, von Grenada drohe eine enorme Gefahr. Wie gesagt: alles Lüge. Damals schon.
    Im Oktober 1983 wurde Maurice Bishop von Gegnern im Lande gestürzt und schnell hingerichtet.
    Eine Woche später landeten 7000 US-Soldaten und besiegten die Armee Grenadas, die gerade einmal 1200 Mann zählte. So viel zum Thema »Bedrohung«.

    Miss Gonthier hatte den ermordeten Premierminister, Maurice Bishop, persönlich gekannt und Sympathie für ihn gehabt. Die internationale Debatte nach der US-Invasion hatte sie zehn Tage lang fast rund um die Uhr auf den Beinen gehalten: Giovanella, wie ich die charmante, schlanke, kleine einunddreißigjährige UN-Delegierte der Seychellen nennen durfte, rannte von Sicherheitsratssitzung zu Generalversammlung zu Ausschusssitzungen, denn sie, die Botschafterin eines der kleinsten Länder der Welt, hatte außer einer Sekretärin und einem Chauffeur keine weiteren Mitarbeiter. Da musste sie all das allein

Weitere Kostenlose Bücher