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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Bilder sah, wie amerikanische Soldaten im Irak auf ihre Gefangenen pinkelten, sie wie Hunde an der Leine führten oder eine elektrische Hinrichtung inszenierten, wunderte mich das nicht. Denn das ist nichts gegen die Qualen, die Jack Henry Abbott in amerikanischen Gefängnissen erlitten hat. Gewiss, er ist ein Gewalttäter, ein Mörder. Doch auch er hat ein Recht auf Menschenwürde. Die wurde ihm aber immer wieder genommen.
    Ich bat Jack Henry Abbott, die Seite 44 in seinem Buch aufzuschlagen. Ein ganzes Kapitel von zwölf Seiten widmet er »The Hole: Solitary Confinement« – Das Loch: Einzelhaft. Fünfeinhalb Jahre verbrachte er in Einzelhaft, wenn er die Zeiten zusammenzählt.
    Er wird in die Einzelzelle unter Gewaltanwendung eingeliefert, anders würde er es auch nicht hinnehmen. Dann schlägt ihm der Boss mit wenigen Hieben die Kleidung vom Körper. Die Narben blieben lebenslang. Die hohen Schnürstiefel tritt er ihm von den Füßen. Abbott nimmt alles mit einem Lächeln hin. Ein Lächeln, um zu zeigen, dass er sich nicht wehren wird. Dann wird er von den Wärtern gemeinsam zusammengeschlagen. Der Boss verlässt die Zelle als Letzter, öffnet seinen Hosenschlitz, holt sein Glied hervor, macht die Bewegung, als masturbiere er. Zieht den Reißverschluss wieder hoch und geht.
    Bitte lesen Sie!
    Jack Henry Abbott las:
    »Du sitzt in der Einzelzelle und schmorst im Nichts, es ist nicht nur dein eigenes Nichts, sondern das Nichts der Gesellschaft, anderer, der Welt. Die Monate voller Stumpfheit, die sich zu Jahren in der Zelle zusammenrechnen, ersticken jede physische Tätigkeit des lebenden Körpers und würgen ihn langsam zu Tode, der schreckliche Verfall des wirklich lebenden Toten. Du machst keine Liegestütze mehr oder andere körperliche Übungen in deiner kleinen Zelle; du schreitest nicht mehr vier Schritt vor und zurück durch deine Zelle. Du masturbierst nicht mehr; du kannst dir keine Form von Erotik mehr als Vision aufrufen, und deine Genitalien, wie die Glieder deines Körpers, funktionieren nur, um deinen Körper am Leben zu halten.
    Zeit senkt sich über die Zelle wie der Deckel eines Sargs, in dem du liegst und zuschaust, wie er sich langsam über dir schließt. Wenn du dich weder bewegst noch denkst in deiner Zelle, dann überflutet dich das reine Nichts.
    Einzelhaft im Gefängnis kann die ontologische Zusammensetzung eines Steines verändern.«
    Jack Abbott schwieg und wartete, bis ich ihm eine neue Stelle im Buch angab, damit er sie lese. Ich aber schwieg. Ich konnte mir nicht vorstellen – und wage es heute auch kaum – dass in dem Land, das doch für die Freiheit des Menschen steht, für die Menschenrechte, das in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg zog, um die Werte Freiheit und Gerechtigkeit zu verteidigen – und damit Zehntausende von Amerikanern in den Tod schickte, dass solch ein Land seine Gefangenen unvorstellbar, unmenschlich quält.
    Abbott fütterte seine Schilderungen mit philosophischen Betrachtungen, bezog sich auf Marx und Engels, Russel und Hobbes. Von Nietzsche war er besonders angetan. Aber auch von Hegel, Kant und Kierkegaard. Er hatte die Jahre in der Einzelzelle genutzt, um alles zu lesen, was ihm in die Hände kam. Neun Zehntel seines Wortschatzes, so sagte Abbott, hat er nie ausgesprochen gehört.
    Norman Mailer war beeindruckt von der Prosa Abbotts. Und er sagte sich, Abbott könnte ein erfolgreicher Schriftsteller werden, aber nur in Freiheit. Also musste etwas für ihn getan werden. »Wenn er rauskommen sollte«, schrieb Mailer, »werden wir einen neuen Schriftsteller von höchstem Rang unter uns haben, der sich selbst in einem Kessel geschmiedet und noch die halbe Welt zu entdecken hat.« Und Mailer verhalf ihm zur Freiheit. Für ein paar miese Wochen.
    Jetzt saß Jack Henry Abbott vor mir im Gefängnis, vor sich sein Buch, in dem ich einige Kapitel angestrichen hatte, damit er sie vorlese vor unserer Kamera. Das erste Kapitel handelt von dem »staatlich erzogenen Sträfling«. 1944 in einer Kaserne in Michigan geboren, Vater Soldat, Mutter Prostituierte. Von Geburt an von einem Heim ins nächste. In der Schule schafft er es bis zur sechsten Klasse. Ab neun erster Aufenthalt im Jugendarrest. Mit zwölf Schulstrafanstalt in Utah. Mit achtzehn als Erwachsener entlassen. Sechs Monate später wegen eines gefälschten Schecks ins Gefängnis. Haftstrafe für fünf Jahre. Nach drei Jahren im Gefängnis ermordet er bei einem Streit einen anderen Gefangenen. Zwanzig Jahre

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