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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Strafe.
    Mit 26 bricht er aus.
    »Ich bin einmal ausgebrochen«, las mir Jack Henry Abbott die von mir angestrichene Stelle aus seinem Buch vor. »1971 war ich sechs Wochen in der freien Welt. Ich war in einem Hotelzimmer in Montreal, Kanada. Ich schlief. Ich war seit etwa drei Wochen auf der Flucht. Ich begann nachts schweißgebadet aufzuwachen – wegen übler Träume. Ich habe nur vom Gefängnis geträumt … An einem Morgen wachte ich auf und war in einem psychologischen Schock verheddert. Ich hatte vergessen , dass ich frei war, dass ich entwichen war. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich war in einem netten Schlafzimmer mit feinen Möbeln. Ein Fenster war offen, und das Sonnenlicht schien herein. Da waren keine Gitter. Die Wände waren mit kostbaren Tapeten beklebt. Mein Bett war breit und behaglich … Ich muss da eine Stunde lang in meinem Bett schwindlig vor Schockstarre gesessen haben, bis mir langsam wieder bewusst wurde, dass ich geflohen war.«
    Nach sechs Wochen wurde er nach einem Bankeinbruch wieder gefasst. Im Alter zwischen 12 bis 37 Jahren war er insgesamt neuneinhalb Monate frei.
    Nach seinem Briefwechsel mit Norman Mailer beantragte er 1980, auf Bewährung freigelassen zu werden. Norman Mailer wollte für ihn bürgen. Mailer würde Abbott als seinen Sekretär einstellen, würde ihn anleiten zu schreiben. Und nach einigen Jahren wäre Abbott in der Lage, sein Leben selbst zu finanzieren.
    Die Gefängnispsychologen warnten. Abbott sei gefährlich.
    Noch bevor ich Abbott im Gefängnis gesehen hatte, wusste ich nach der Lektüre seines Buches, dass er ein gewalttätiger Mensch sein musste. Denn in den Jahrzehnten im Gefängnis gibt es nur die Wahl zwischen Gewalt und Tod. Gewalt ausüben oder den Tod erfahren.
    Der Bewährungsausschuss aber, vielleicht beeinflusst durch den Namen des großen Autors, stimmte der bedingten Freilassung in die Dienste von Mailer zu.
    Im Juni 1981 landete Abbott auf dem Kennedy-Airport, Mailer und seine Frau holten ihn ab und nahmen ihn für einige Tage mit auf ihr Anwesen auf Cape Cod. In New York wurde Abbott dann in ein Rehabilitationshaus der Heilsarmee eingewiesen.
    Abbotts Buch war erschienen.
    Er hatte zwölftausend Dollar Vorschuss erhalten. Rolling Stone brachte ein Interview mit ihm. Die Today Show, das Frühstücksprogramm von NBC, lud ihn ein. Seine Geschichte erschien im People Magazin .
    Abbott zog durch das nächtliche New York. Zwei Mädchen gabelte er irgendwo auf. Die eine war eine französische Gräfin, die andere die Enkeltochter eines ehemaligen philippinischen Präsidenten. Sie gingen zum Frühstück ins Binibon, ein Szene- Lokal. Der Kellner sagte etwas, das Jack Henry missfiel. Lass uns das draußen abmachen. Draußen stach Abbott dem Kellner mit dem Messer ins Herz. Der Kellner war ein junger Schriftsteller, der noch nicht vom Schreiben leben konnte.
    Abbott verteidigte sich später: Sein im Gefängnis ausgeprägter Instinkt, auf jeden Angriff sofort mit Gewalt zu reagieren, habe ihn zustechen lassen. Im Gefängnis ginge es immer sofort um Leben und Tod.
    Keine zwei Stunden nach dem Mord saß Jack Henry Abbott schon im Bus und floh. Am selben Morgen erschien in der New York Times eine Lobeshymne auf das Buch »In the Belly of the Beast – Letters from Prison«.

    Drei Monate später schon hatte ihn ein Kriminalkommissar aus New York gefunden, der sich in das Buch Abbotts vertieft hatte und ihn danach so gut kannte, dass er ihn bald erwischte. Augenzeugen hatten den Mörder auf der Flucht an der Tätowierung J-A-C-K auf den Knöcheln seiner Hand erkannt.
    Das Buch von Jack Henry Abbott sollte auch in Deutschland erscheinen. Anlass genug für mich, für die ARD einen Bericht zu drehen. Es mag in Deutschland, wie in anderen europäischen Ländern merkwürdig erscheinen, dass ein Fernsehteam den Antrag stellt, einen Mörder während seines Prozesses im Gefängnis zu besuchen. Trotzdem wollte ich es versuchen. Ich rief den Anwalt von Abbott an. Er sagte sofort zu. Das sei eine gute Idee. Es würde den Angeklagten aufmuntern und ablenken. Er werde sofort den Sheriff anrufen. Der Sheriff gab seine Einwilligung. Allerdings stellte er die Bedingung, Abbott dürfe nur über sein Buch sprechen, keinesfalls etwas zum Leben im Gefängnis erzählen. Aber das Buch handelte doch nur von Szenen im Gefängnis, von unvorstellbar grausamem Strafvollzug! Ich ging auf alle Bedingungen ein, strich in Abbotts Buch die Stellen an, die er vorlesen sollte und saß nun bei

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