Neukölln ist überall (German Edition)
Der Unterricht macht einen deutlich strukturierteren Eindruck, und die Übungsarbeitsschritte funktionieren reibungsloser. Das hat nichts mit der Lehrkraft zu tun. Und auch nichts mit den Kindern an sich, denn an Begeisterungsfähigkeit, an Liebesbedürftigkeit und Lernhunger unterscheiden sie sich von denen der ersten Schule nicht. Es ist der angehängte Nachmittag, der den Unterschied ausmacht, dieses »spielend Lernen«. Die Vertiefung des Stoffes nebenbei oder auch nur die längere Zeit der Gemeinsamkeit mit anderen Kindern oder die Aktivitäten unter Anleitung. Vielleicht ist es aber auch viel profaner: Sie sind einfach länger weg vom Fernseher.
Welche Erklärung auch immer die richtige ist: Fest steht, Kinder aus identischen Lebensverhältnissen lernen an einer Ganztagsschule effektiver als Kinder in einer Schule mit traditionellem Betrieb bis 13.30 Uhr.
Den Kulturschock gibt es immer an der dritten Station. Die Kinder der gleichen Altersstufe sind in den Fächern deutlich weiter als die der beiden anderen Schulen. Sie lesen flüssiger, sie reden differenzierter, sie sind kreativer, selbstbewusster und beherrschen den Wechsel zwischen abstrakter und realer Ebene. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Das liegt nicht an schlechteren oder besseren Lehrern. In allen drei Schulen wird engagiert gearbeitet. Es liegt einfach am Elternhaus. In dem einen werden die Kinder inspiriert, sie erhalten Impulse, die Eltern kümmern sich um sie, hören ihnen zu und versuchen, an ihrer kindlichen Welt teilzuhaben. Sie führen die Kinder auch, sie kontrollieren die Schulleistungen, und sie üben, üben, üben. In den anderen Familien geschehen diese Dinge vielfach nicht. Mädchen müssen Hausarbeit verrichten. Die Hausaufgaben machen sie auf dem Boden liegend, weil sie keinen Schreibtisch haben. Die Jungen chatten, hocken vor dem Fernseher oder machen das Einkaufszentrum unsicher. Hauptsache, sie stören nicht. So sieht es aus, das Gefälle innerhalb Neuköllns. Und wie immer gilt das Gesetz der Bandbreite. Nicht alle im Süden sind bildungsorientiert und nicht alle im Norden bildungsfern.
Wenn ich einmal wieder eine Besuchstour durch die Schulen hinter mich gebracht habe, bin ich für eine Weile zu nichts zu gebrauchen. Ich habe dann Zorn im Bauch. Ich sehe diese unschuldigen Kinder, die auf der Suche nach ihrem Weg im Leben und auch bereit und willens sind, auf ihm voranzukommen, und die doch fast keine Chance haben. Ich stehe vor 9-Jährigen, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht schaffen werden. Das kann einen nicht kalt lassen. Und es lässt mich auch nicht kalt. Ja, die Hauptverantwortung dafür tragen die Eltern. Aber wir als Gesellschaft sind auch nicht ganz unbeteiligt an dem Desaster. Es mag objektiv so sein, dass viele Eltern überhaupt nicht in der Lage sind, ihren Kindern den Weg ins Leben zu ebnen und sie zu begleiten. Aber es ist auch so, dass sich ganz viele gar nicht darum bemühen. Das ist eine schmerzhafte Wahrheit für Gutmenschen. Es sind eben nicht alle Menschen edel, verantwortungsbewusst und engagiert. Es gibt auch Vollpfosten. Und auch die in unterschiedlicher Farbe. Wegschauen und schwadronieren statt zu intervenieren ist wie das Händewaschen von Pontius Pilatus.
Wenn ich mich in den Schulen erkundige, wie stark angebotene Hilfe von Eltern angenommen wird, wie stark das Elternzentrum nachgefragt ist und wie die angebotenen Kurse ausgelastet werden, ernte ich nicht selten resignierende Blicke. Unter den Eltern ist eine gewisse Trägheit weit verbreitet, und sie ist bequem: Ich habe mein Kind in der Schule abgegeben, und die trägt jetzt die Verantwortung dafür, dass aus ihm etwas wird, dass das Kind alles lernt, was es lernen muss, um Doktor, Ingenieur oder Anwalt zu werden.
Eine andere Variante meiner regelmäßigen Schulbesuche sind Elternversammlungen. Um die Eltern gewissermaßen nach dem Prinzip »Mit Speck fängt man Mäuse« in die Schule zu locken, habe ich gemeinsam mit dem türkischen Generalkonsul Elternversammlungen besucht. Zwei Konsuln haben mit mir schon eine Rundreise durch Neuköllner Schulen gemacht. Der Hintergedanke war: Wenn der Generalkonsul kommt, haben viele etwas mit ihm auf völlig anderer Ebene zu regeln, die Gelegenheit ist günstig, ich gehe da einmal hin. Wenn der Bürgermeister kommt, gibt es vielleicht auch etwas mit ihm zu bereden über die Einbürgerung, über den Lärm im Nachbarhaus oder ähnliches. Also dachten wir uns, eine Elternversammlung, zu der wir
Weitere Kostenlose Bücher