Neukölln ist überall (German Edition)
umsonst, und belegte Brötchen sind für 30 Cent zu haben.
Die Mitarbeit der Eltern in der Schule lässt sehr zu wünschen übrig. Bei den Vätern ist diese Erlebniswelt völlig unterbelichtet. Bleibt der Schulerfolg aus oder gibt es Unregelmäßigkeiten, so ist die Schule natürlich schuld, der Lehrer faul, die Lehrerin dumm. Gewalt erlebt sie weniger an ihrer Schule. Es ist mehr die emotionale Verwahrlosung der Kinder, die sie stört. Es ist auch anders als früher, sagt sie. »Da haben die Kinder noch von zu Hause erzählt. Heute tun sie das gar nicht mehr. Sie sind darauf gedrillt, ja nichts von daheim zu offenbaren.«
Das große Thema der Schulversäumnisse, des Schwänzens, und das Problem, dass immer wieder Kinder vor Ferienbeginn in die Heimat fliegen und erst einige Tage nach Ferienende wieder in die Schule kommen, weil die Flugtickets dann billiger sind, überspringt sie mit flotten Sätzen. Alles hat sich eingeschliffen. Die Familien sind professionalisiert, sie haben ihre Ärzte, die alles Erforderliche bestätigen. Die Krankenkassen, das Schulamt und das Jugendamt sind nicht in der Lage, Sachverhalte zu ermitteln oder Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. In einem eindeutigen Betrugsfall mit einem vom Arzt falsch ausgestellten Attest unter Missbrauch der Krankenversicherungskarte hat sie sich einmal an die AOK gewandt. Die Antwort: »Das interessiert uns nicht. Wenn die Ärzte zu viel abrechnen, schaden sie sich nur selbst. Wir zahlen eine Pauschale. Die Aufteilung machen die Ärzte untereinander.« Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Aber wenn dem so ist, dann wundert mich auch der bekannte »flexible« Einsatz der Krankenkassenkarte nicht mehr. Kannst du ruhig machen, passiert nix , ist zum System geworden. Die Rektorin wäre für die Nürnberger Gangart: In den letzten zehn Tagen vor den großen Ferien kontrolliert die Polizei auf dem Flughafen alle Familien mit schulpflichtigen Kindern darauf, ob sie eine Schulbefreiung vorweisen können. In Neukölln würden solche Schulversäumnisse noch im Rahmen des Möglichen geahndet. In anderen Bezirken geschieht ihrer Kenntnis nach gar nichts mehr.
An dieser Stelle passt der Hinweis, dass mich zu Beginn der Sommerferien 2012 ein Hilferuf eines Neuköllner Gymnasiums erreichte: Man wisse nicht mehr, wie man die eigenmächtige Verlängerung der Heimataufenthalte über die Ferienzeit hinaus abstellen könne. Ohne von der Kollegin aus der Grundschule zu wissen, regte die Schulleitung ebenfalls Kontrollen schulpflichtiger Kinder an den Flughäfen an. Apropos, beim Thema große Ferien fallen mir noch die im Jobcenter zu dieser Zeit immer sprunghaft ansteigenden Anträge ein, mit der zum Zwecke der Fahrt in die Heimat die Genehmigung für – wie es im Behördendeutsch so schön heißt – Ortsabwesenheit beantragt wird. Schenkt man den Begründungen Glauben, warum man sich momentan leider nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen könne, sondern ein längerer Aufenthalt im Heimatland unbedingt erforderlich sei, so stehen wir jedes Jahr vor dem Phänomen, dass Vater, Mutter, Onkel, Tante oder andere nahe Verwandte gerade in den Sommerferien epidemieartig schwer erkranken. Doch zurück zu unserer Grundschulrektorin.
Auf die Frage, wie groß ihrer Einschätzung nach der Anteil der Familien ist, die sie als ihre Sorgenkinder bezeichnen würde, sagt sie 30 %. Die Hardcore-Fälle sind fünf bis sieben pro Klasse. An denen kann man sich trefflich abarbeiten. Es beginnt damit, dass mehr als die Hälfte aller Eltern morgens im Bett liegt, wenn die Kinder zur Schule müssen. Der Fernseher hatte abends halt zu lange Besitz von ihnen ergriffen. Für die Kinder gilt das manchmal gleich mit. Das merkt man daran, dass sie um 11:00 Uhr im Klassenraum einschlafen.
Befragt nach den Kopftüchern bei kleinen Mädchen, berichtet sie, dass dies eher eine Spezialität bei den Araberfamilien ist. Und zwar bei den Familien, die sich im Transferbezug befinden. Arbeitende Eltern, insbesondere türkische, treten in diesem Zusammenhang selten in Erscheinung.
Sie ist eine der engagiertesten Gegnerinnen der Einschulung bereits mit 5½ Jahren. Sie sagt: »Was soll ich hier mit diesen Schnullerkindern? Sie sind noch nicht gruppentauglich, dazu sind sie oft auch noch entwicklungsverzögert, viele können nicht richtig sprechen, und eigentlich bräuchten alle ein Jahr Vorklasse.« Sie sagt, dass die Familien, die bewusst neben der deutschen Gesellschaft her leben und diese auch
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