Neukölln ist überall (German Edition)
Mitarbeit sind, dass sie selbst etwas zum Erfolg ihrer Kinder beitragen müssen, das verstehen sie nicht, oder sie hören einfach nicht hin. Sprachmängel können zum Selbstschutz auch hilfreich sein.
Es sind keine Vorwürfe, die die Schulleiterin formuliert. Es ist eine nüchterne, ungeschminkte Bestandsaufnahme ihres täglichen Ringens. Viele Kinder sind überbehütet und unselbständig. Sie werden viel zu lange gefüttert und von der Mutter angezogen. Ein Junge kam in die Schule und konnte nicht alleine essen, weil er das zu Hause nicht lernen durfte. Viele Kinder werden jeden Morgen in die Schule gebracht, obwohl der Schulweg kurz ist und sie nicht mal eine Straße überqueren müssen. Manchmal muss man schon einen Moment tief durchatmen.
Die Rektorin hat eine enge Kooperation mit der benachbarten Kindertagesstätte geschlossen. Beide Leitungen sprechen sich ab, welche Schwerpunkte sie bilden, wie sie die Kinder zum Beispiel an ein gesundes Frühstück gewöhnen. Obst und Gemüse gibt es hier wie dort jederzeit umsonst. Einen wachsamen Blick haben sie auf die Entwicklung der Mädchen. Frauen und Mädchen werden in den Familien oft überfordert. Von früh an müssen sie im Haushalt helfen oder auf kleinere Geschwister aufpassen. Die Jungen haben sehr viel mehr Freiheiten. Sie sind die kleinen Prinzchen, denen oft keine Grenzen gesetzt werden und die sich in der Schule nicht an Regeln halten können. Viele sind schon bei Schuleintritt verhaltensauffällig. Die Anzahl dieser Jungen hat in den letzten Jahren leider zugenommen. Die Erziehung zum King führt dazu, dass sie irgendwann merken, dass sie nichts von dem beherrschen, was einen tatsächlichen King ausmacht. Dann bleibt ihnen meist nur die Gewalt.
Analphabetismus der Eltern ist nicht das Hauptproblem an dieser Schule. Verschuldung schon eher. Bis zu dem Punkt, dass die Mieten nicht gezahlt werden. Dann muss das Quartiersmanagement ran und versuchen, den Eltern mit einer Schuldnerberatung zu helfen und zwischen Mieter und Vermieter zu vermitteln. Auf das Thema Schwarzarbeit angesprochen, antwortet sie, dass sie aufgehört hat, darüber nachzudenken. Es ist nicht ihr Job und auch nicht ihr Gebiet. Es würde sie unnötig belasten. Für Statussymbole scheint immer Geld da zu sein. Die sind eben wichtig, wichtiger als die Miete. Mit den arabischstämmigen Familien zu arbeiten sei nicht einfach. Sie fühlten sich immer sofort als Opfer . Jeder kritisiert uns, jeder will was von uns, und ständig werden wir angegriffen. Früher waren wir weiter, so empfindet sie es.
Besondere Bedeutung misst sie dem Kopftuch bei. An ihrer Schule gebe es keine kopftuchtragenden kleinen Mädchen. Sie lasse nicht zu, dass Kinder schon im jüngsten Alter auf eine bestimmte Rolle festgelegt werden, dass sie nicht Fahrrad fahren oder schwimmen dürfen. In diesen Dingen sei sie knallhart. Ob das denn ohne Konflikte abgehe, will ich wissen. Nein, beileibe nicht, sie habe schon viele böse schimpfende arabische und türkische Väter er- und überlebt.
Von einem Vater wurde sie als »General« betitelt, weil sie jeden Morgen im Foyer der Schule Aufsicht macht und darauf achtet, dass die Kinder ihre Mappen und Turnbeutel selber tragen. Sie sollen auch ohne Eltern in die Klasse gehen, um die schulischen Angelegenheiten allein mit der Lehrerin oder dem Lehrer zu klären. Auf diese Weise sollen sie Selbständigkeit und Eigenverantwortung lernen. »Da steht wieder die Rote«, musste sie sich von Eltern anhören, die diese Erziehungsmaßnahmen nicht richtig finden.
Sie versucht, die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen. Mit den Kompetenzen, die sie haben. Väter sollen ihre Jungen zur Fußball- AG begleiten, gemeinsam spielen und hinterher zusammen grillen. Weil zu wenige Väter kamen, wurde das Projekt eingestellt. Väter sollten auch bei der Gestaltung des Schulhofs helfen und Pflastersteine mit Schubkarren transportieren. Leider kamen die Väter nicht. Sie achtet darauf, dass ihre Kinder während des Ramadan nicht fasten, und rückt, wenn nötig, den Eltern auf die Pelle. Die Klassenlehrerin, der Klassenlehrer oder sie selbst ruft die Eltern an. Sie will nicht warten, bis unter 10-Jährige Kreislaufprobleme bekommen, nur weil die Alten nicht vernünftig denken können.
Ja, sie ist auch autoritär. Zum Beispiel, wenn es um Pünktlichkeit geht. Bei ihr gibt es keinen flexiblen Schulbeginn, bei dem die Kinder zwischen 7:45 und 8:15 Uhr kommen können. Angeblich sind sie dann entspannt, wenn der
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