Neukölln ist überall (German Edition)
Unterricht beginnt, kommen nicht gehetzt mit rotem Kopf und müssen sich in der ersten Stunde erst einmal beruhigen. So sehen es jedenfalls die Schulen, die sich für jenes Modell entschieden haben. Sie habe damit keine guten Erfahrungen gemacht. Schulbeginn ist Schulbeginn, und da muss man pünktlich sein. Gerade bei den arabischen Familien ist es wichtig, dass sie Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit lernen. In den weiterführenden Schulen und am Arbeitsplatz werden diese Tugenden und Pünktlichkeit erwartet.
Viele der Lehrerkollegien stehen immer wieder vor der Frage, auf wen sie sich konzentrieren sollen oder wollen. Auf die Eltern oder auf die Kinder. Das macht sich an ganz praktischen Dingen fest. Viele Eltern geben ihren Kindern keine Schulbrote mit. Soll man in einer Cafeteria gespendete und von ehrenamtlich tätigen Menschen aus der Nachbarschaft belegte Brötchen, Süßwaren und Obst kostenlos oder zu minimalem Preis bereitstellen oder nicht? Braucht man eine Notfallkasse, um Kindern Schuhe und Jacken gegen die schlechte Witterung kaufen zu können? Soll man in der Klasse Ersatzschulmaterialien für Kinder bereithalten, die sie nicht mithaben – weil vergessen, von anderen Geschwistern verbummelt oder zerstört oder aber im elterlichen Chaos untergegangen?
Die eine Schule entscheidet alle diese Fragen mit Ja. Sie legt den Fokus auf das Wohl des Kindes. Es braucht Nahrung, es braucht Kleidung, und es muss dem Unterricht folgen können. Das Kind kann schließlich nichts für seine Eltern.
Die andere Schule entscheidet mit Nein. Sie sagt, auch wir sehen das Kind. Wir möchten, dass es lernt, sich um seine Sachen zu kümmern und zu Hause auch seine Bedürfnisse einzufordern. Treten wir an die Stelle des Elternhauses, fördern wir die Vollkasko-Mentalität und Faulheit nach dem Motto »Klappt doch, irgendjemand kümmert sich und löst mein Problem«.
Ich werde an dieser Stelle kein Votum abgeben. Jede Schule muss ihren eigenen Weg finden.
Der Mensch ist so, wie er ist. Ich erinnere mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Jugenddezernent. Gegenüber einer Kindertagesstätte befand sich ein Kinder-Clubhaus. Also ein freiwilliges Angebot der Freizeitgestaltung. Ich ordnete an, dass in der Kita nicht verbrauchtes Mittagessen nicht weggeworfen, sondern dem Kinder-Clubhaus zur kostenlosen Verteilung überlassen wird. Nach einem halben Jahr habe ich diese Anweisung widerrufen. Ein Teil der Eltern hatte seine Kinder im Hort abgemeldet, weil es nunmehr kostenloses Essen gegenüber im Kinder-Clubhaus gab. Ich habe das auf dem Konto Lebenserfahrung verbucht. Übrigens: Die Frage von Einwanderung war hier nicht tangiert.
Es ist immer dasselbe, was ich zu hören bekomme. Es geht um den Fernseher, der zu einem ausgesprochenen Hassobjekt für alle Außenstehenden geworden ist. Die Familie sitzt davor, und er erschlägt jeglichen Alltag. Ein Schulleiter sagte einmal: »Bei unseren Schülern läuft der Fernseher als optisch-akustische Tapete permanent mit. Er ist ein Familienmitglied.« Besonders dann, wenn es draußen dunkel, kalt oder nass ist. Outdoor-Leben findet nicht statt. Den Plänterwald – eine große Grünanlage an der Spree –, nur wenige Minuten entfernt, kennen viele Kinder nicht.
Aktiv werden viele Eltern immer nur dann, wenn ihre persönlichen Erwartungen nicht erfüllt werden. Die Schulleiterin berichtet mir von den Auftritten der Eltern, wenn das Kind beim Übertritt in die Mittelstufe keine Gymnasialempfehlung erhalten hat. Sie erinnert dann an ihre ständigen Ermahnungen, mit dem Kind zu üben. Doch gerade die Eltern, die sich am lautesten beschweren, haben damals nicht auf sie gehört. Jetzt ist sie schuld, und manchmal wird auch gern noch die Rassismuskarte gezogen.
Der Schulalltag hat viele Gesichter
Bei der Abfassung eines Buches mit der Aufgabenstellung, die ich mir gesetzt habe, kommt man immer wieder an die Stelle, an der man sich selbst fragt, ist es nicht genug? Haben jetzt nicht alle begriffen, was du meinst? Oder ist es der Chronisten-Pflicht geschuldet, umfassend zu berichten? Mir fallen dann die schnellen, besänftigenden Kommentare ein, die bei irgendeinem unschönen Vorgang beteuern, dies sei ein absoluter Einzelfall, den man auf gar keinen Fall verallgemeinern dürfe. Das ist eben die Lebenslüge! Bestimmte Entwicklungen sind identisch und von einer Stelle oder von einem Ort auf den nächsten übertragbar. Deswegen helfen uns ja auch keine Projekte. Diese wirken regional und
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