Neukölln ist überall (German Edition)
ablehnen, in den letzten Jahren deutlich mehr geworden sind. Es passt auch alles gut zusammen. In der Siedlung gibt es schöne große Wohnungen, die Familien haben so viele Kinder, dass auch das Jobcenter die Wohnungen als angemessen akzeptiert, und die Moschee ist gleich um die Ecke. Der Anteil der Analphabeten nimmt zu, insbesondere durch den Zuzug von Roma-Familien, aber auch innerhalb der arabischstämmigen Community.
Ihr Steckenpferd sind der Schwimm- und Sportunterricht, das Duschen und die Körperhygiene. »Doch was soll ich machen?«, klagt sie. »Ich kriege Briefe von eigentlich funktionalen Analphabeten in perfektem Deutsch mit einem beigehefteten Attest vom arabischen Arzt, dass das Kind irgendwas am Öhrchen hat und nicht schwimmen darf.« Die Schulärztin ist überlastet, kann sich um den Fall nicht kümmern, und damit ist wieder alles geregelt.
Auf die Armut unter den Eltern angesprochen, reagiert sie gereizt. »Wenn elektronische Geräte ein Indiz für den Lebensstandard sind, dann geht es meinen Familien nicht schlecht. Wenn die Autos, die morgens vorfahren, ein Indiz für ihren Wohlstand sind, dann geht es meinen Familien sogar sehr gut.« Bildung und Teilhabe, ist das ein Thema bei Ihnen? »Ja, wir prüfen jetzt drei Berlin-Pässe, um 1,50 Euro erstattet zu bekommen. Noch einen Zettel und noch einen Zettel füllen wir aus. Außerdem gibt es 100 Euro für Schulmaterial, aber die landen natürlich wieder nicht beim Kind.«
Es ist alles ein bisschen düster, was die Rektorin mir erzählt. Wir gehen anschließend durch die Schule, treffen Kinder, scherzen und lachen mit ihnen, da sind die dunklen Wolken weg. Aber ich denke mir, so eine Schulleiterin wird wohl wissen, worüber sie redet.
Meine zweite Gesprächspartnerin ist in ihrer Wohnsiedlung ebenfalls nicht als Knutsche-Entchen bekannt. Seit 1972 ist sie hier. Sie kämpft für ihre Kinder, und dabei nimmt sie auf kaum etwas oder irgendjemanden Rücksicht. Als ich einmal mit dem Regierenden Bürgermeister ihre Schule besuchte, hat sie ihm unverblümt ihre Meinung gesagt. Ich fand es gut. Wie er es fand, weiß ich nicht.
Die kämpferische Frau hat die Widerstandsbewegung gegen das jahrgangsübergreifende Lernen (JüL) in Berlin angeführt und ist eine hartnäckige Gegnerin des Senats bei der Frage, ob Vergleichstests wie » VERA 3« wirklich überall Sinn machen. (Für die Nicht-Lehrer unter Ihnen sei darauf hingewiesen, dass dies die Bezeichnung für die Vergleichstests für Grundschüler der 3. Klassen ist.)
Meine Schulleiterin bekennt sich zum Widerstand, betont aber, dass sie weder etwas gegen Differenzierung noch gegen Tests habe. Nur müssten die Dinge auf die Kinder zugeschnitten sein. Und die meisten der Kinder in Neukölln haben einfach zu wenig Vorwissen. Sie haben kein Buch, keiner liest ihnen vor, und keiner spielt mit ihnen. Die Sozialkompetenz entspricht nicht ihrem Lebensalter. Kinder werden durch ihre Umwelt eben völlig unterschiedlich geprägt. Während die Kinder ihrer Schule noch an Dinge herangeführt werden, lesen Gleichaltrige an anderen Orten bereits selbständig. Deshalb hält sie weder von JüL noch von VERA 3 in ihrer Schule etwas: Weil die Grundvoraussetzungen der kommunizierenden Kompetenzröhren einfach nicht vorhanden sind. Weil Dinge von ihren Kindern gefordert werden, die sie nicht liefern können. Sie jedenfalls zieht Lernentwicklungsberichte solchen nicht aussagekräftigen Momentaufnahmen vor.
Ihre Klagen über die sich verweigernden oder nicht verstehenden Eltern sind die gleichen wie die von ihrer Kollegin. Papa und Mama nehmen wenig teil am Schulleben, die Resonanz bei Themenabenden ist gering, und allgemeine Elternabende haben eben keine Bedeutung, oder es ist schlicht zu mühselig hinzugehen. 87 % der Familien ihrer Schule sind nicht-deutscher Herkunftssprache, und 90 % sind von der Zuzahlung zu den Lernmitteln befreit. Aufgrund der Arbeitslosigkeit verharren die Eltern in Lethargie und Antriebslosigkeit. Die Menschen leben einfach in den Tag hinein. Ihr Aufstiegswille ist völlig verkümmert, und der Ehrgeiz, etwas aus ihrem Leben zu machen, ist, wenn er jemals da war, erlahmt. Somit erhalten die Menschen auch von außen keine Inspiration mehr. Erwerbstätige müssen sich immer auf Neues einstellen. Aber wer nur zu Hause sitzt oder es maximal bis ins Café schafft, stumpft ab. Das Kind ist in der Schule abgegeben, und jetzt sollen die Deutschen mal machen . Dass die Zensuren auch eine Benotung ihrer
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