Neukölln ist überall (German Edition)
temporär. Aber schon an der nächsten Ecke helfen sie nicht mehr. Deshalb will ich die Beispiele weiter streuen, um zu zeigen, dass sich viele engagierte Leute an unterschiedlichen Orten mit immer den gleichen Problemen auseinandersetzen müssen.
Eines Tages schickt mir unaufgefordert eine Grundschule ihr neues pädagogisches Konzept mit der Bitte um Unterstützung. Auf den ersten Blick bin ich etwas verwundert, denn die Schule liegt, geographisch gesehen, in einem »befriedeten« Gebiet. Auch die statistischen Werte sind für Neukölln nicht wirklich eine Sensation. Der Anteil der Einwandererkinder beträgt 70 % und der Anteil der Schüler mit Lernmittelbefreiung 35 %. Eine Schule im Innenstadtbereich würde diese Verhältnisse als sehr entspannt bezeichnen. Trotzdem gibt es Probleme. In ihrem Konzept beschreibt die Schule die Situation so:
»Alle bisherigen Bemühungen, Eltern zur Zusammenarbeit mit unserer Schule zu bewegen, führen zu schmalen Ergebnissen. An unserer Schule existiert seit drei Jahren ein Eltern-Café. Seit einem Jahr kommen von 340 Eltern nun ca. zehn Mütter regelmäßig. Seit drei Jahren finden gemeinsame Konferenzen für Eltern, Lehrer und Hort-Erzieherinnen an unserer Schule statt, in denen wir mit den Eltern unsere Themen und unsere Arbeit besprechen wollen. Teilnahme 40 von 340 Eltern. Entwickelte Förderpläne für lernschwache Kinder werden von den Lehrerinnen zusammen mit den Kindern und Eltern besprochen und unterschrieben, denn zu Hause müssen die Eltern mit ihren Kindern üben, wenn sie nachhaltige Erfolge für ihre Kinder erleben wollen. Nachweislich üben die wenigsten Eltern mit ihren Kindern zu Hause.
Am Gesamtelterntreffen nimmt noch nicht einmal die Hälfte der Eltern teil. Elternabende sind zunehmend schlecht besucht. Die wöchentliche Sprechstunde der Lehrerinnen wird kaum von den Eltern genutzt. Von der Schule ins Leben gerufene Elternaktionen zur Verschönerung der Schule, die schließlich ihre Kinder besuchen, wurden nur von ca. 5 % der Eltern wahrgenommen. Andererseits sind die Eltern anspruchsvoll. Der Anspruch richtet sich gegen die Schule. Wir Lehrerinnen und Erzieherinnen sollten die Kinder rundum bilden und erziehen.
Die Kinder leben in Armut, aber darunter ist nicht die finanzielle Situation zu verstehen, sondern die Erziehungs- und Bildungsarmut. In der Schule werden von Organisationen der Einwanderer Seminare für arabisch- und türkischstämmige Menschen angeboten. Konkrete Aktionen kommen nicht zustande, weil die Mindestzahl von zehn Teilnehmern nicht erreicht wird.«
Diese sehr engagierte Schule hat einen Strich gezogen. Sie sagt, die Erfahrung der letzten Jahre zeige, dass unsere Eltern dringend Unterstützung benötigen. Wenn die freiwilligen Angebote jedoch nicht in Anspruch genommen würden, müssten sie künftig verpflichtend sein. Nur mit Verbindlichkeit lasse sich Nachhaltigkeit erreichen. Die Schule hat die Sorge: »Auch an unserer Schule lassen sich in den letzten Jahren vermehrt Bullying-Situationen, also körperliche, verbale und psychische Gewaltausübung unter den Schülern, beobachten. Zudem werden wir vermehrt Zeugen rassistischer Äußerungen.« Zu Recht bemängelt die Schule, dass sie mit ehrenamtlichen Mediatoren und nur dem Stammpersonal diesen Herausforderungen auf Dauer nicht gewachsen ist.
Die Erziehung und Bildung eines Kindes vollziehen sich in einem Dreieck, bestehend aus dem Elternhaus, der Schule und dem sozialen Umfeld. Dies ist unstrittig. Gelegentlich gibt es unterschiedliche Präferierungen für die einzelnen Mosaiksteine. Mal werden sie als gleichgewichtig angesehen, mal weist man dem Elternhaus die bestimmende Wirkung zu, mal der Schule, mal dem sozialen Umfeld. In einem sind sich alle Fachleute jedoch einig: Bricht einer der drei Bereiche weg, können die beiden anderen die Funktionsfähigkeit des Dreiecks kaum aufrechterhalten. »Wenn ein Elternhaus einem Lehrer, einer Lehrerin oder einer Schule ablehnend gegenübersteht, haben wir ganz, ganz schlechte Karten, weil das Kind in seinen negativen Sozialhandlungen gedeckt wird«, so formuliert es ein Schulpsychologe mit langjähriger Berufserfahrung.
Bei all meinen Kontakten mit Erziehern, Sozialarbeitern und Lehrern habe ich niemals gehört, dass von diesen Klage über die Kinder geführt worden wäre. Auch die Eltern wurden nur indirekt als Verursacher der kritischen Situation empfunden. Ansatzpunkt für die zum Teil ja doch recht heftigen Worte waren stets unser
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