Neukölln ist überall (German Edition)
umgehen.
Mein Eindruck ist, dass wir den Irrweg der nur beobachtenden Gesellschaft schon viel zu weit gegangen sind. Allein der Überlebenswille und der Fortentwicklungsdrang beinhalten den Anspruch, die Kraft der Gestaltung nicht dem Zufall oder bewusst außerhalb der Gesellschaft stehenden Kräften zu überlassen. Eine Gesellschaft ist nicht die zufällige und gewillkürte Menschenmenge, die in einem Staatsgebiet nach gleichen Gesetzen lebt und nach dem Prinzip der Windrose beliebig auswechselbar ist. Eine Gesellschaft ist eine Gemeinschaft. Wir sprechen die gleiche Sprache, wir haben eine gemeinsame Historie, wir erfreuen uns der Leistungen und sind stolz auf die Errungenschaften unseres Volkes im Laufe der Menschheitsgeschichte, aber wir tragen auch gemeinsam Verantwortung für Schuld und Verbrechen. Wir verneigen uns vor der Vergangenheit und suchen gemeinsam Inspiration zur Gestaltung unserer Zukunft. Schon aus dieser Überlegung heraus gefährden Parallelgesellschaften unseren Staatsaufbau. Weil sie außerhalb dessen stehen, was Bürger unseres Staates verbindet. Sie machen ihr Ding. Und deswegen können sie nicht Teilhaber und Partner der Integration sein. Sie sind eben kein Kegelclub. Sie sind Auswüchse des Separatismus.
Die Normensetzung darf nicht auf der Straße erfolgen. Auch nicht in Hinterzimmern, auch nicht in Religionsschulen. Die Normensetzung in der Demokratie erfolgt ausschließlich und ausnahmslos durch die verfassungsgebenden Organe, die unter der Prämisse, alle Gewalt geht vom Volke aus, durch freie Wahlen dazu legitimiert werden. Unsere demokratisch verfasste Gesellschaft steht nicht zur Disposition. Für niemanden, mit welcher Begründung auch immer. Die Gesetze dieses Landes gelten für jeden. Egal, ob, was und woran er glaubt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. So lautet nicht zufällig der erste Satz unserer Verfassung. Das heißt, die Würde jedes Menschen. Ob jung oder alt, Mann oder Frau, religiös oder nicht, Ethno-Deutscher oder Migrant, egal mit welcher sexuellen Orientierung – jeder Einzelne hat das Recht, in diesem Land als eigenständiges Individuum, als Träger von Rechten und Pflichten respektiert und geachtet zu werden. Niemand hat das Recht, einen anderen in seiner physischen oder psychischen Integrität zu beeinträchtigen. Die Würde und das Selbstbestimmungsrecht haben nicht hinter eine selbstdefinierte Familienehre zurückzutreten. Gewalt, auch familiäre Gewalt ist geächtet. Mädchen und Jungen gehen gemeinsam zur Schule. Wir respektieren die körperliche Integrität jedes Einzelnen. Und wir verheiraten niemanden gegen seinen Willen und ohne rechtlichen Schutz. Kulturelle Identität bedeutet nicht, dass wir uns ins 19. Jahrhundert zurückbeamen. Wir führen ja auch die Kinderarbeit und das Dreiklassenwahlrecht nicht wieder ein. Ein Serientäter ist keine kulturelle Bereicherung, sondern ein Störer des sozialen Friedens.
Beim Schreiben dieser vorstehenden Zeilen war ich sehr im Zweifel, ob alle Leser nachvollziehen können, welche Beweggründe es für sie gibt. Es sind Selbstverständlichkeiten, teilweise abgeschrieben aus dem Grundgesetz. Warum muss man sie dann wiederholen? Erklären uns doch alle Protagonisten des konfliktfreien Integrationsprozesses, das sei alles selbstverständlich: Es gebe niemanden, der dieses Wertegerüst in Frage stelle. Mit Verlaub, liebe Leserin und lieber Leser: Das ist Quatsch und hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Gerade in den Vierteln der Bildungsferne sind Welten entstanden, in denen religiöser Fundamentalismus, archaische Familienriten und die alles legitimierende Gewalt bei sogenannten Ehrverletzungen eine Dominanz ausstrahlen, die fassungslos macht. Selbstjustiz, Scharia-Richter und -Vollstrecker sind keine Episoden aus dem Märchenbuch (siehe Joachim Wagner, Richter ohne Gesetz ).
Eine engagierte und erlebbare Integrationspolitik muss das Wertegerüst der Gesellschaft nicht nur verteidigen, sondern die Werte auch einfordern. Kulturelle Identität ist kein Freibrief für tradierte oder archaische Lebenswelten oder Familienriten. Wieder nehme ich gerne Bezug auf Cem Özdemir. Er formulierte es einmal so: »Wer möchte, dass Kreuzberg im besten Sinne multikulturell bleibt, der muss eben nicht nur Schulen und Lehrer unterstützen sowie an die Verantwortung der Eltern appellieren. Der muss auch für Sicherheit sorgen und darf keine Parallelgesellschaft bzw. Parallelgerichtsbarkeit dulden, wo radikale
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