Neukölln ist überall (German Edition)
Radioprogramme zu genießen ist eine Sache. In der U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, das ist eine ganz andere.
Ich kann Eltern verstehen, die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten, wenn der Ausländeranteil an der Schule sehr hoch ist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.
Ich kann auch verstehen, wenn überdurchschnittlich hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler vielen Menschen Angst macht.
(…)
Ich engagiere mich von ganzem Herzen für einen Dialog der Kulturen und Religionen weltweit. Das ist eine wichtige Aufgabe. Ich habe sie allerdings nie als Ersatz dafür verstanden, dass wir uns ganz handfest um die praktischen Probleme des Alltags kümmern, die sich aus dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen im eigenen Land ergeben.«
Johannes Rau stand nicht im Verdacht, ein Sympathisant des verdeckten Rassismus zu sein. Nicht umsonst trug er den Beinamen »Bruder Johannes«. Seine mahnenden Worte sind zwölf Jahre her. Haben wir daraus wirklich einen Arbeitsauftrag entwickelt und ihn entschlossen umgesetzt? Ich denke, nein. Gleichzeitig ist die Rede aber ein Beleg dafür, dass es schon im Jahre 2000 emotionale Bewegungen der Art in der Bevölkerung gab, dass der Bundespräsident sich veranlasst sah, das Thema aufzugreifen.
Das erinnert mich an ein weiteres Zeichen, das wir schon viel früher unbeachtet zur Seite getan haben. Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik, Heinz Kühn, legte im Jahr 1979 ein Memorandum zur Ausländerintegration vor. Und er schrieb uns ins Stammbuch:
»Die schulische Situation der ausländischen Kinder und Jugendlichen ist durch einen unzureichenden Schulbesuch, eine extrem niedrige Erfolgsquote bereits im Hauptschulbereich und eine erhebliche Unterrepräsentation ausländischer Schüler an weiterführenden Schulen gekennzeichnet.
(…)
Beachtlich sind ferner auch die bei den ausländischen Eltern bestehenden Hemmnisse, die Bedeutung des Schulbesuchs für die Zukunftsentwicklung ihrer Kinder richtig einzuschätzen und ihnen schulbegleitend die notwendige Förderung zu vermitteln.«
Dieser Text hätte auch in der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ vom letzten Sonntag stehen können. Immer wieder stellt sich die Frage, warum diese Signale nicht beachtet und in politisches Handeln umgesetzt wurden. Nun ja: Deutschland ist kein Einwanderungsland. – Die Gastarbeiter gehen alle wieder nach Hause. – Multikulti regelt alles wie ein Naturgesetz. Solche wenn auch widersprüchliche Lebenslügen haben unsere Gesellschaft in den letzten 30 bis 40 Jahren geprägt. Es wird Zeit, dass wir uns von ihnen befreien.
Maulkorb und Scheuklappen –
was tat die Politik?
Haben wir uns bisher mit der Theorie der Einwanderung und ihrer Auswirkung auf das tägliche Leben in einer Stadt beschäftigt, so geht es in diesem Kapitel um die Frage, wie die politische Kaste die Veränderungen um sich herum zur Kenntnis nahm und welche Handlungsaufträge sie für sich ableitete. Na ja, Dynamik sieht anders aus, aber wir hatten jederzeit alles im Griff. Sagte man, einige glaubten das sogar.
Die Prozesse der Segregation, also der fortschreitenden Entmischung ganzer Stadtviertel, haben wir bereits beleuchtet. Für das heutige Neukölln ist die Feststellung, dass diese Entwicklung im Wesentlichen als so gut wie abgeschlossen zu betrachten ist, keine Übertreibung. Der Bezirk hat sich im Großen und Ganzen sortiert. Die, die es sich leisten konnten und wollten – egal ob Ethno-Deutsche oder Einwanderer –, sind aus Nord-Neukölln weggezogen. Entweder haben sie im Süden ihr Häuschen gebaut, oder sie wohnen jetzt in einem anderen Bezirk mit höherem Sozialstatus. Heute vollziehen sich Wanderungsbewegungen auf diesem Sektor nur noch in Einzelfällen. Zum Beispiel bei Einwandererkindern, denen der Sprung auf der Bildungsleiter geglückt ist und die mit ihrem gestiegenen Selbstbewusstsein kokettieren. »Ich habe das Abitur nicht gemacht, um weiter im Ghetto zu leben.« Gerade Bildungsaufsteiger urteilen sehr streng über die, die es nicht geschafft haben, die aus ihrer Sicht nichts tun und nur abhängen. In Nord-Neukölln gibt es immerhin drei Gymnasien, die jährlich zwischen 150 und 200 Abiturienten hervorbringen. Das sind zwar weniger als das generelle statistische Soll der Einwandererkinder gemessen an ihrem Anteil an der jahrgangsgleichen Gesamtbevölkerung, führt bei vielen Erstsemestern der Neuköllnologie aber immer wieder zu
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