Neukölln ist überall (German Edition)
nicht in der Schule war.
Wenn ich mich insbesondere mit jungen Muslimen unterhalte, so möchte ich sie häufig an den Schultern rütteln und sie aufwecken. Ihnen zurufen: »Schau dich um, diese Gesellschaft hält auch für dich einen Platz bereit, nimm ihn ein und ergreife die Chancen, die das Leben dir in diesem Land bietet!« Es sind die Riten der Großväter und der Separatismus ihres sozialen Umfeldes, die sie in einem Zwiespalt aufwachsen lassen, der sie fast zerreißen muss. Die sie umgebende liberale und freie Gesellschaft passt nicht zu den vordemokratischen Strukturen zu Hause. Das gilt ganz besonders für die jungen Frauen. In Kindertagesstätten und Schulen zu selbständig denkenden und emanzipierten Wesen erzogen, werden sie häufig mit martialischen Mitteln gezwungen, sich in eine Tradition zu fügen, die nicht mehr die ihre ist. Der immer wieder zitierte »Ehren«-Mord an Hatun Sürücü oder der Film Die Fremde sowie die Romane Arabboy und Arabqueen von Güner Y. Balci beschreiben diese uns wohl immer fremd bleibenden Lebenswelten in unserem Land.
Selbstverständlich sind bei so vielen Kulturen, die zu uns gekommen sind, auch weitere Religionen in unseren Alltag eingezogen.
Die Inhaberin meines Lieblings-Chinesen ist Buddhistin. Wenn mich das Hungergefühl ausgerechnet zur Gebetszeit zu ihr führt, ist eine Warteschleife angesagt. Bis sie ihre Zwiesprache beendet hat und die Räucherstäbchen ausgemacht sind, ist nichts mit Ente kross oder scharfen Nudeln. Ich weiß nicht, ob es Sie überrascht, aber es stört mich nicht im Mindesten. Als ich vor einiger Zeit die Anfrage erhielt, ob es möglich sei, in Neukölln einen buddhistischen Gebetsschrein zu errichten, habe ich spontan zugestimmt. Leider ist er noch nicht realisiert. Ich bedaure das ein wenig, denn die Zusammenarbeit und das Miteinander gestalteten sich außerordentlich angenehm und fruchtbringend für den Bezirk. Die Gemeinschaft der Buddhisten führt ein sehr stilles, zurückgezogenes Leben unter uns. In Neukölln war ihr Wirken für die Allgemeinheit dezent und nachhaltig.
Von der Weltöffentlichkeit außerhalb Neuköllns völlig unbeachtet blieb meine Ernennung zum Maharadscha im September 2007. Anlässlich der Unterzeichnung des Pachtvertrages für das Grundstück zum Bau des Tempels für Sri Ganesha wurde mir diese Ehre zuteil. Es war ein wunderbares Ritual in dem sonst eher etwas spröden Rathaus. Der Einzug der Gemeinde mit Musik, Blumen und Früchten in traditionellen Gewändern – das hatte schon etwas. Multikulti kann durchaus schön sein. Leider hatte ich nicht mit der Mentalität der Hindus gerechnet. Als ich ihnen im Jahr 2004 das Angebot unterbreitete, einen Tempel in Neukölln zu bauen und ihnen hierfür ein Grundstück des Bezirks zu verpachten, war ich von der kindlichen Hoffnung ausgegangen, die Einweihung noch während meiner Amtszeit als Bürgermeister zu erleben. Nun, acht Jahre später, weiß ich viel mehr über die rituellen Schritte beim Bau eines Tempels. Ich kenne die Bedeutung der Sternen- und Sonnenkonstellation für die Weihung des Bodens, für die Grundsteinlegung oder auch andere spirituelle Handlungen. Wenn nicht durch ein kurzfristiges Wunder noch ein Tempel in Schnellbauweise in der Neuköllner Hasenheide entstehen sollte, werde ich wohl damit leben müssen, dass ich Sri Ganesha meine Ehrerbietung bei der Eröffnungsfeier nicht mit Amtswürden werde darbringen können.
Doch befinden sich inzwischen zwei hinduistische Tempel bei uns im Entstehen. Neben demjenigen für die indischen Tamilen, über den ich gerade berichtet habe, ein weiterer für die Gemeinde aus Sri Lanka. Beide sind eine willkommene Bereicherung in unserem Neukölln. Sie sind in keinster Weise belastet mit Aufgeregtheiten oder unschönen Emotionen. Mit dem tamilischen Kulturzentrum verbindet uns seit vielen Jahren eine freundschaftliche Beziehung. Die tamilischen Kinder sind häufig die Referenzschüler in ihren Schulen. Für mich steht das Pongalfest (Erntedank) auf Augenhöhe mit zum Beispiel dem Zuckerfest. Wie harmonisch das Zusammenleben mit diesen für uns doch eher exotisch anmutenden Glaubensrichtungen sein kann, zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der eine evangelische Pfarrerin bei der Grundsteinlegung für einen der Hindutempel teilnahm und ihre Glück- und Segenswünsche überreichte.
Die Gemeinsamkeiten mit den Tamilen, ob bei Festen, traditionellen Daten oder in den Schulen, sind geprägt von schlichter Natürlichkeit.
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