Neukölln ist überall (German Edition)
Prozess des Verstehens oder der Annäherung. Wer die Ängste der Bevölkerung nicht mehr aufnimmt, wer das Gespür verloren hat, Sorgen und Gefühle zu verstehen, und wer Politik betreibt nach dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«, der wird irgendwann eine Überraschung erleben.
Nur anreißen will ich in diesem Zusammenhang, dass der Umgang mit Thilo Sarrazin und seinem Buch Deutschland schafft sich ab von mir als eine kaum zu überbietende, semiprofessionelle politische Fehlleistung bewertet wird. Die Kanzlerin, der Staatspräsident und sonst mit einem untadeligen Ruf versehene Journalisten hyperventilierten alle mit Schaum vor dem Mund. Meine Partei, die der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, hielt es sogar für angezeigt, ihn rausschmeißen zu wollen. Ich hätte da den Ratschlag gegeben, sich an die Regel des alten preußischen Generalstabs zu erinnern: Vor jeder wichtigen Entscheidung eine Nacht schlafen. Damit hätte sich die SPD diese jämmerliche Blamage des Einknickens im Ausschlussverfahren erspart. Statt sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen, hat man ihn zur Persona non grata erklärt und geglaubt, damit der Diskussion und dem Thema zu entgehen. Jeder einzelne Buchkauf war somit eine recht unerfreuliche Antwort auf diese Drückebergerei.
Damit wir uns nicht falsch verstehen. Ich will Thilo Sarrazin keinen Heiligenschein umhängen. Ich finde einen Großteil seiner Ableitungen falsch und daneben. Ich finde auch seine undifferenzierte Einseitigkeit und seine Perspektivlosigkeit kritisierenswert. Seine Wortwahl ist mitunter recht verletzend. Aber deshalb kann sich die etablierte Politik nicht einfach der Themen verweigern, die der Bevölkerung erkennbar wichtig sind. Damit treibt sie die Menschen in die Arme der Radikalen. Gerade Volksparteien müssen offen sein auch für einen schmerzhaften Diskurs. Ideologisierter Hinterzimmer-Seminarismus entfernt die Politik von den Menschen. Oder einfacher ausgedrückt: Volksparteien müssen aufpassen, dass ihnen nicht das Volk abhanden kommt.
Ein freies Land ist die Summe freier Bürger, und die Grundlage der Freiheit des Einzelnen ist die Freiheit seines Geistes. Das ist eigentlich ein Sprechblasensatz von der Metaebene. Und doch scheint er im praktischen Leben so schwer zu verwirklichen zu sein. Wenn man einen unbequemen Autor nicht über einen öffentlichen Wochenmarkt gehen lässt, wenn man einem Lokalinhaber für den Fall, dass er den Autor bedient, mit Gewalt gegen sein Lokal droht, und wenn die alevitische Gemeinde so eingeschüchtert wird, dass sie sich nicht mehr traut, ein Gespräch mit ihm zu führen, und wenn das dann auch noch durch Abgeordnete der GRÜNEN als Augenmaß und ein Akt der politischen Reife bezeichnet wird, dann ist es höchste Zeit, darüber nachzudenken, für wen der Freiheitsbegriff in diesem Land überhaupt noch gilt und wer das Zertifikat »freiheitsbefugt« ausstellt. Diese Frage stellt sich die renommierte Wissenschaftlerin und Autorin Necla Kelek seit ihrem Redeverbot in der Friedrich-Ebert-Stiftung genauso wie die Fernsehjournalistin Güner Balci.
Im SPD -Umfeld sind kritische Positionen zur Integrationspolitik oder zum Islam ebenfalls nicht wohlgelitten. Aber auch im Innern ist es gesünder, stromlinienförmig zu sein und nicht anzuecken. Ich habe meine Erfahrungen gemacht. Und auch der Politikwissenschaftler und Islamexperte Dr. Johannes Kandel kann ein Lied davon singen, wie man in der SPD -nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mit ihm verfuhr. Die Kritik an ihm zeigte sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nie offen. Er wurde verdächtigt, »antiislamische« Thesen zu vertreten. Man nahm ihm übel, dass er Hamas und Hisbollah als »terroristische Organisationen« bezeichnete. Auch war es nicht opportun, die Soziologin und populäre Autorin sowie Sophie-Scholl-Preisträgerin Necla Kelek gegen Angriffe aus Kreisen von »Migrationsforschern« in Schutz zu nehmen. Unverzeihlich scheint auch eine Einladung des streitbaren Henryk M. Broder (zusammen mit Hamed Abdel-Samad) in die Friedrich-Ebert-Stiftung gewesen zu sein, der offenbar für manche Sozialdemokraten ebenfalls eine Persona non grata ist. Kandels Positionen, die er auch in seinem Buch Islamismus in Deutschland formulierte, fanden gleichwohl in weiten Teilen der Sozialdemokratie positiven Widerhall.
»Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden«, lautet wohl eins der berühmtesten Zitate in diesem Zusammenhang (R. Luxemburg). Irgendwie
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