Neukölln ist überall (German Edition)
abverlangt wird. Wo junge Frauen gefragt werden, ob sie einen Befruchtungsvorgang wünschen. Wo man dem Busfahrer die Cola über den Kopf schüttet, wenn er nach dem Fahrschein fragt. Wo man den Zeitungskiosk überfällt und anderen ihre Sachen wegnimmt. Das alles macht einfach nur schlechte Laune. Schon beim Lesen. Übrigens nicht nur in diesem Buch, sondern täglich in der Zeitung. Auch den Menschen, die noch nie selbst Opfer einer solchen Situation waren, suggeriert die tägliche Berichterstattung, dass es in ihrer Wohngegend jetzt so üblich ist.
Es ist die entscheidende Stelle, an der sich der Weg gabelt. Ob die Menschen Vertrauen in die verändernde Kraft der Politik setzen oder ob sie sich abwenden und ihrer Erfahrungswelt durch Wegzug entfliehen. Solange wir eine Politik des Alles-Verstehens und des Alles-Verzeihens betreiben und den Menschen signalisieren, dass wir gar nicht daran denken, die Verhältnisse zu ändern, weil diese Verwahrlosung der Sitten zur kulturellen Identität und zur Weltoffenheit gehören, solange werden wir für eine wirklich erfolgreiche Integrationspolitik nur verhalten Mitstreiter finden.
Wie indiskutabel und primitiv das Verhalten im Umgang miteinander sein kann, dokumentiert das Schreiben einer Pfarrerin an ihre Gemeindemitglieder in einem sozialen Brennpunkt. Ich bin ihr ausdrücklich dankbar, dass sie mir gestattet hat, ihren Brief hier abzudrucken. Es ist ein starker Beleg dafür, welchen Belastungen Menschen ausgesetzt sind und welche Stärke sie entwickeln müssen, um nicht alles hinzuschmeißen.
Herbst 2008
»Liebe Nachbarn,
ich will Euch von einem wahrhaft interkulturellen Sonntag erzählen:
Er begann mit einem Familiengottesdienst zum Beginn des Schuljahres. Motto: ›Du bist wie eine Schatzkiste – entdecke, was in dir ist.‹ Mit diesem Zuspruch bin ich zum Ganesha-Fest der Hindus in der Hasenheide gereist. Hier war mit allen Sinnen zu erleben, welche Schätze die Kulturen, die in Neukölln lebendig sind, enthalten: bunte Gaben, orientalische Düfte, ungewohnte Klänge, schmackhafte Speisen, schön gekleidete Menschen und respektvoller Umgang!
Welch ein Gegensatz, als ich nach einem Geburtstagsbesuch wieder nach Hause kam: Eine Gruppe vermutlich arabischer Jugendlicher treibt sich auf dem Gang an der Parkpalette am Gemeindehaus herum. Einer pinkelt gerade über die Brüstung ans Haus. Darauf angesprochen, ob er sich nicht schäme, streckt mir ein anderer das nackte Hinterteil entgegen. Ein dritter zeigt mir den ›Stinkefinger‹, nennt mich eine ›Schlampe‹.
Ich frage Euch, Jungs: Habt Ihr keine Würde? Wer hat Euch erzogen? Hat Euch nicht auch eine Frau zur Welt gebracht? Was würdet Ihr tun, wenn es jemand wagen würde, sie so zu behandeln? Was ist passiert, dass Ihr so widerlich geworden seid? Oder vielleicht besser: Was ist nicht passiert? Ihr müsst wissen, dass Euch so niemand haben will – niemand. Seid Ihr so dumm, dass Ihr das nicht begreift? Warum zerstört Ihr Euer eigenes Leben? Seid Ihr Muslime? Dann möchte ich Euren Imam bitten, seinen Einfluss geltend zu machen, um Euch die Schätze Eurer Religion aufzuschließen und Euch aus der Falle der totalen Kulturlosigkeit zu locken.
Es gibt ein Benehmen, das auch in Nord-Neukölln unter keinen Umständen zu dulden ist. Verständnis ist hier fehl am Platz. Ich bitte Euch, Nachbarn: Können wir gemeinsam etwas gegen den Verlust an gegenseitigem Respekt ausrichten, ganz gleich, von wem er ausgeht? Ich lebe noch nicht lange genug hier, um nicht immer wieder geschockt zu sein von Erlebnissen wie dem heutigen. Ich gestehe, dass ich oft vorbeigehe, Augen, Ohren, Nase und Türen einfach zumache und nichts sage. Aber das kann doch keine Lösung sein … Zu wissen, dass die heutige Begebenheit nur ein kleines Beispiel für ein viel größeres Problem ist, macht die Sache nicht leichter.
Es ist keine Frage der Herkunft – ich kenne viele Araber, die kultiviert, respektvoll und liebenswert sind, und Menschen anderer Nationalität – auch Deutsche –, die sich ebenso wenig zu benehmen wissen wie die Jungs von der Parkpalette. Was immer die Ursachen dafür sind – Erziehung, Geschlecht, Alter, sozialer Status –, wir sollten gemeinsam Wege suchen, unsere Ansprüche an ein kultiviertes Zusammenleben durchzusetzen.«
Nein, es ist nicht die Feindlichkeit gegenüber Fremden, die die Menschen in verharrender Distanz hält. Es ist oft nicht einmal eine konkrete Angstsituation. Es ist eigentlich mehr das Klima und die
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