Neukölln ist überall (German Edition)
erinnert mich dieser Satz an das ständige Einfordern von Respekt für die eigene Person immer von denjenigen, die jedoch mitnichten bereit sind, anderen Respekt zu zollen.
Als ich zur Hochzeit der Sarrazin-Debatte bei der angesehenen Comenius-Gesellschaft in Darmstadt einen Vortrag vor 250 ehrwürdigen Geisteswissenschaftlern hielt, war dieses Thema unausweichlich. Der übereinstimmende Ratschlag, der mir mit auf den Weg gegeben wurde, war der, »es geht nicht darum, ob Thesen richtig sind, sondern es geht darum, ob man sie äußern darf«.
Von der Reaktion der Wähler als Folge von Lebenslügen in der Integration haben einige andere europäische Länder bereits eine Prise genommen. Von Finnland bis Ungarn, über Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Frankreich und Österreich zieht sich der Gürtel der zweistelligen Wahlergebnisse der Rechtspopulisten. Heißt das denn, dass der Faschismus mit Riesenschritten in Europa hoffähig wird? Aus meiner Sicht keineswegs. Es handelt sich um eine Reaktion der Menschen auf Entwicklungen in ihrem Land, die sie als nicht positiv empfinden. Im Zusammenhang mit dem Thema »Zuwanderung« bezeichnet man dies wohl zu Recht als Überfremdungsangst. Fremdes macht Menschen immer Angst. Ungewohnte Bräuche, unverständliche Kulturen, anderes Aussehen, abweichendes Verhalten, all das wird mit Argwohn beobachtet. Überall. Manchmal ist das direkt unterhaltend. In der Schweiz betrachtet man die Deutschen mit Skepsis. Überfremdungsängste sind latent immer und überall da vorhanden, wo Bewegung in der Bevölkerungsstruktur herrscht. Auch wenn ein statistisch relevanter Anteil von Berlinern nach Baden oder Württemberg ziehen würde, würde dies dort mit Sicherheit zu Argwohn führen. Insofern halte ich es für völlig falsch, diesem Phänomen mit Nichtbeachtung zu begegnen. Im Gegenteil, Politik muss Überfremdungsängste offensiv bekämpfen. Dies gelingt nicht durch die derzeit verabreichten Placebos. Der eine lautet: Das ist alles nur gefühlt, deine Ängste sind völlig unberechtigt . Und der zweite kommt mit der Moralkeule: Du musst dich bemühen, ein besserer Mensch zu werden, du denkst rassistisch . Falls die beiden nicht gewirkt haben, kommt das Totschlagargument: Es ist alles eine kulturelle Bereicherung.
Diesen Politikrezepten ist eines gemein: Sie verleugnen die Realitäten. Sie verschweigen Erlebnisse, die die Haltung der Menschen prägen. Also das, was sich gestern in Bahn oder Bus ereignet hat, der Bericht der Tochter oder des Sohnes aus der Schule oder vom Schulweg, die Anpöbelei aus dem Autofenster, die ständige und permanente Bedrohung durch Gewalt im Alltag, Kriminalität und Verwahrlosung im Wohngebiet. All diese Dinge, die wir kleinreden oder deren Existenz wir leugnen, führen zu der Feststellung: Das muss ich nicht haben.
Woher kommt jene fast perfekte Verdrängung? Eine Ursache ist sicher, dass die, die über solche Ängste reden oder in den Entscheidungsebenen sitzen, noch nie in einem sozialen Brennpunkt gewohnt haben. Vielleicht haben sie dort einmal eine Wahlkampfveranstaltung besucht oder sind mit dem Bus durchgefahren. Den Alltag der vom Balkon fliegenden Mülltüten, der durchzechten Nächte und des schwindenden Wohlfühlfaktors, den kennen sie nicht. Sie würden ihn auch keine vier Wochen durchhalten. Meine Frau sagt immer, wenn jeder Politiker verpflichtet wäre, jeden Monat einmal mit der U-Bahn quer durch Berlin zu fahren, dann würde die Politik in der Stadt anders aussehen.
Fragt man einen Polizisten nach den Risikofaktoren der Kriminalität in Einwandererstadtteilen, so erhalten Sie stets die Antwort: Jung, männlich, Migrant. Was auf den ersten Blick als Vorurteil und pauschale Kriminalisierung bestimmter Bewohnergruppen aussieht, ist durchaus statistisch belegbar. Doch dazu später.
Es geht mir an dieser Stelle mehr um die alltägliche Ohnmacht in einer Welt, in der man durch den Supermarkt zieht, Waren nimmt, an der Kasse ohne zu bezahlen vorbeimarschiert und der Kassiererin klarmacht, was ihr droht, wenn sie die Polizei holt. Dort, wo man zu fünft nebeneinander über den Bürgersteig geht und alle anderen ausweichen müssen. Dort, wo an der roten Ampel möglichst alle stur geradeaus schauen, um nicht von den Streetfightern aus dem Wagen nebenan angepöbelt und gefragt zu werden: »Hast du Problem? Könn’ wir gleich lösen!« Da, wo kleineren Kindern von größeren Jugendlichen ein Wegezoll oder eine Benutzungsgebühr für das Klettergerüst
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